Die Olympischen Spiele in der Antike

Anhang

Lysias: Der Anfang der Olympischen Rede

Lysias (um 445 − um 380 v. Chr.) war ein berühmter Redner und Logograph (Verfasser von Gerichtsreden), der in Athen lebte. Im Jahr 388 v. Chr. trug er mög­licherweise selbst seine Rede mit dem Titel Olympiakos während der Olympischen Spiele vor. Diese Rede ist verloren, aber dank Dionysios von Halikarnassos[28] ist der Anfang über­liefert. Aus dem Werk geht die Sehnsucht nach der Einigkeit der griechischen Städte hervor, symbolisiert durch die Olympischen Spiele, die in der Vergangenheit die Tyrannei der Per­ser fernhalten konnte und nun dasselbe gegen Dionysius I. von Syrakus tun sollte:

(1) Wegen vieler anderer großer Taten hat Herakles es verdient, dass man sich seiner erinnert, nicht zuletzt deswegen, ihr Männer, weil er in wohlwollender Ge­sinnung für Griechenland als erster die­sen Wettkampf veranstaltet hat. Denn in der Zeit davor standen sich die einzelnen Stadtstaaten fremd gegenüber. (2) Nach­dem Herakles aber die Tyrannen gestürzt und dem Treiben der Frevler ein Ende bereitet hatte, begründete er am schöns­ten Ort Griechenlands einen körperlichen Wettkampf eine Zurschaustellung unseres Wohlergehens und unserer Geisteskraft. Zu diesem Zweck sollten wir alle als Zu­schauer und Zuhörer dort Zusammenkom­men. Er erhoffte sich nämlich von dieser Versammlung den Beginn gegenseitiger Freundschaft unter den Griechen. (3) Das war seine Absicht. Ich aber bin nicht hierher gekommen, um über Kleinigkeiten zu reden oder mit Worten zu wetteifern. […], denn man sieht ja, wie Griechenland darniederliegt, viele Teile des Landes un­ter der Herrschaft von Fremden stehen und viele Städte von den Tyrannen zer­stört sind. (4) Hätten wir dies aufgrund eigener Schwäche erlitten, so müssten wir es als unser Schicksal akzeptieren. Da es aber nur als Folge innerer Parteienkämpfe und gegenseitiger Rivalität so weit gekom­men ist, warum sollten wir da nicht damit aufhören und ein Ende setzen? [ …]  (5) Wir sehen ja die großen Gefahren, die uns von allen Seiten bedrohen. […] (6) Wir sollten deshalb den Krieg untereinan­der beenden und in einhelliger Meinung nach einer Rettung streben. […] (7) Am meisten aber wundere ich mich über die Spartaner. Was empfinden sie, wenn sie mitansehen, wie Griechenland in Flam­men steht? […] (8) Nun wird die Zukunft keine bessere Gelegenheit bringen, als wir sie im Augenblick haben. Wir dürfen das Unglück derer, die zugrunde gegan­gen sind, nicht als etwas Fremdes ansehen, sondern müssen es als unser eigenes betrachten. Wir dürfen nicht warten, bis beider Macht gegen uns selbst vorrückt, sondern solange noch Zeit ist, müssen wir ihren Übermut zügeln. (9) Wer ist denn nicht empört, wenn er sieht, wie sie wäh­rend unserer gegenseitigen Kämpfe groß geworden sind?[29]

Isokrates: Auszug aus dem Panegyrikos

Isokrates (Athen 436−338 v. Chr.) war einer der größten Meister der Rhetorik. Als Gründer und Leiter einer bedeutenden Schule bildete er zur Zeit Philipps II. von Ma­kedonien eine neue Gruppe führender atheni­scher Persönlichkeiten aus, die expansionisti­sche Ziele außerhalb Griechenlands im Sinn hatte.

Sein Panegyrikos von 380 v. Chr. ist eine wichtige politische Rede, die ein Jahrhundert nach den Perserkriegen und 25 Jahre nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges entstan­den ist. Isokrates war sich bewusst, inwieweit sich das gegenwärtige Athen von dem des gol­denen Zeitalters des Perikles unterschied, als die Stadt ihre Vormachtstellung im Kampf zu­erst gegen die Perser und dann gegen die Spar­taner gezeigt hatte, und er sieht nostalgisch auf diese glorreiche Vergangenheit zurück.
Der Redner wünscht sich eine panhellenische Föderation zur Verteidigung Griechen­lands gegen die Makedonier und weist darauf hin, dass die Olympischen Spiele eine ideale Gelegenheit seien, um das politisch-militäri­sche Bündnis zwischen allen Poleis zu fordern. Insbesondere beschäftigt sich Isokrates mit dem olympischen Waffenstillstand und fordert die Griechen auf, seine symbolische Bedeu­tung − abgesehen von dem territorialen und temporären Geltungsbereich − zu würdigen:

(179) Mit folgenden Worten glaube ich, noch klarer einerseits die Mißachtung, die uns widerfahren ist, und anderer­seits die Machtgier des Großkönigs zei­gen zu können. Da die gesamte Erde un­ter der Sonne in zwei Teile geteilt ist, in den, der Asien heißt, und in den, der Eu­ropa heißt, hat sich der Perserkönig auf Grund des Vertrages die Hälfte genom­men, als ob er sich die Welt mit Zeus ge­teilt, aber nicht mit Menschen einen Ver­trag geschlossen hätte. (180) Er hat uns außerdem gezwungen, diesen Vertrag auf Marmorstelen einzumeißeln und in den allen Griechen gemeinsamen Heiligtü­mern aufzustellen, was für den Perserkö­nig ein viel ruhmreicheres Denkmal ist als die auf den Schlachtfeldern errichteten Siegeszeichen. Denn diese stehen für nicht so bedeutende Leistungen und für einen einzigen glücklichen Erfolg, der Vertrag aber steht für den gesamten Krieg und für ganz Griechenland. (181) Darüber müßte man sich empören, und man müßte dar­auf sinnen, wie wir uns für das widerfahrene Unrecht rächen können und wie wir in Zukunft richtig verfahren werden. Es wäre ja doch eine Schande, wenn wir es für richtig hielten, im privaten Bereich die Barbaren als Bedienstete zu Hause zu beschäftigen, öffentlich aber darüber hinwegzusehen, wie so viele unserer Bun­desgenossen von den Barbaren geknechtet werden. Es wäre eine Schande, wenn einst die Menschen zur Zeit des Troianischen Krieges wegen des Raubes einer einzigen Frau alle zusammen so in Zorn gerieten für diejenigen, denen Unrecht gesche­hen war, daß sie erst dann zu kämpfen aufhörten, als sie die Polis dessen zer­stört hatten, der dieses Verbrechen gewagt hatte, (182) während wir heute keinen gemeinsamen Feldzug unternehmen woll­ten, obwohl ganz Griechenland Unrecht geschieht und obwohl wir etwas erreichen könnten, was einem frommen Wunsch gleicht. Allein dieser Krieg nämlich ist besser als ein Frieden, er wird mehr ei­ner Festgesandtschaft als einem Kriegszug gleichen, er wird beiden Vorteile bringen: den Friedliebenden, die ohne Bedrohung ihren Besitz genießen können, ebenso wie den Kriegsbegeisterten, die sich großen Reichtum von den Feinden holen werden.

(183) Bei genauerer Überlegung wird man wohl zu der Erkenntnis kommen, daß diese Unternehmungen in erster Linie uns von Nutzen sein werden, und zwar in vielfacher Hinsicht: Gegen wen muß man denn, wenn man nicht auf Machtzuwachs aus ist, sondern nur auf das Gerechte schaut, Krieg führen? Doch gegen solche Menschen, die auch schon früher Grie­chenland heimgesucht haben, es jetzt wie­der bedrohen und uns die ganze Zeit über feindlich gesinnt waren. (184) Gegen wen muß man denn seinen Groll richten, wenn man nicht völlig mutlos ist, sondern ein beträchtliches Maß an Tapferkeit besitzt? Doch gegen diejenigen Menschen, die sich mit einem Herrschaftsanspruch umgeben haben, der alles menschliche Maß über­steigt, obgleich sie weniger wert sind als die von Schicksal vernachlässigten Men­schen bei uns. Gegen wen muß man denn in den Krieg ziehen, wenn man zugleich die Götter ehren, aber auch den eigenen Vorteil nicht außer acht lassen will? Doch gegen solche Menschen, die natürliche Feinde − und zwar schon seit altersher − sind, die sehr viel Besitz angehäuft ha­ben, aber am wenigsten in der Lage sind, für das Ihre zu kämpfen. Die Perser sind es doch, auf die all diese Punkte zutref­fen.[30]