Das nachantike Milet

Textauszug des Beitrags von Lisa Steinmann über das Nachleben von Milet aus dem Heft «Tutanchamun» der ANTIKEN WELT 6/2022

Während die antike Stadt Milet vielen ein Begriff ist, ist ihre Nachfolgesiedlung Palatia (bzw. Balat) ein unterschätztes Juwel anderer Zeiten. Die mittelalterliche Hafenstadt hielt Milets Ruinen bis in die Moderne am Leben. Unter der Herrschaft der Menteşefürsten war sie als Binnenhafen in der Nähe der Küste ein wichtiger Knotenpunkt für den Handel zwischen «Ost» und «West». Das Fortleben Milets hat nach der Spätantike nur sporadisch und vorrangig in der türkischen Forschungsliteratur Aufmerksamkeit erfahren. Dabei bietet die Stadt hervorragende Grundvoraussetzungen für die Betrachtung des Ausklangs der Spätantike und die Entwicklung vormals byzantinischer Städte in der Emiratszeit.

Milet als «Perle Ioniens» in der Antike

Die Geschichte von Milet reicht weit zurück. Die ältesten Zeugnisse einer Siedlung wurden im späteren Stadtzentrum entdeckt und datieren in die Kupfersteinzeit (etwa ab 3500 v. Chr.) – zu dieser Zeit bestand die spätere Halbinsel noch aus mehreren kleinen Inseln. Das bronzezeitliche Milet befand sich an der Küste einer dieser Inseln südwestlich des antiken Theaters (etwa 3000−1200 v. Chr.). Etwa hier lässt sich auch die geometrische Siedlung (ab 1050 v. Chr.) lokalisieren. Bis in archaische Zeit (etwa ab dem 7. Jh. v. Chr.) waren die vormaligen Inseln zur milesischen Halbinsel verschmolzen, deren Häfen in den darauffolgenden Jahrhunderten die Stadt zu einer blühenden Metropole machten, der «Perle Ioniens» (Herodot V,28). Auch nach ihrer Zerstörung infolge des ionischen Aufstandes war Milet eine der bedeutendsten Städte in Kleinasien, was sich in der Pracht und Größe der zahlreichen, heute noch zu besichtigenden hellenistischen und kaiserzeitlichen Bauten im Stadtgebiet widerspiegelt.

Von Milet nach Palatia: Landflucht und Verteidigung

Mit dem Ende der Antike verlor die einstige Großstadt einen großen Teil ihrer Bevölkerung an das Umland, war als Bischofssitz aber weiterhin ein bedeutender Ort. Die Befestigungsmauern der Stadt wurden zunehmend verengt und umschlossen nun nur noch den Bereich des antiken Stadtzentrums bis hin zum Theater und dem zugehörigen Hügel. Vom 7. bis zum 12. Jh. wurde hoch oben auf der Ruine des Theaters eine Burg, das «Kastron ton Palation», angelegt und wiederholt ausgebaut. Ab dem späten 11. Jh. umfasst die zugehörige Befestigungsanlage den gesamten Kaletepe. Sogar innerhalb des versperrten Zuschauerraumes und der Bühne standen einige Häuser, eine Zisterne und eine Kapelle. In den Gängen des Theaters zeugen Einbauten von Siedlungsaktivitäten in der Ruine. Dass diese späte Siedlung so stark befestigt und gut zu verteidigen war, wird oft mit Angriffen seitens der Rum-Selçuken verbunden, die sich nach der byzantinischen Niederlage in der Schlacht bei Manzikert in Kleinasien anzusiedeln begannen.

Das Theaterkastell auf dem sog. Kaletepe ist namensgebend für die Siedlung Palatia
Das Theaterkastell auf dem sog. Kaletepe ist namensgebend für die Siedlung Palatia (Foto: Lisa Steinmann).

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Die sog. neohethitischen Staaten waren Regionalzentren der Eisenzeit im Südosten der Türkei und Nordwesten Syriens. Neue Forschungen zu den Neohethitern liefern Einblicke in eine außergewöhnliche Kultur, die bislang im Schatten anderer Reiche stand.

An den Grenzen des Byzantinischen Reiches zum nun etablierten Rum-Selçukischen Sultanat entstand eine Reihe von türkischen Fürstentümern, sog. Beyliks, deren Herrscher als Bey (früher Beğ) bezeichnet wurden. Gebräuchlich ist auch die arabische Bezeichnung Amir oder Emir. Die Periode der Herrschaft dieser Fürstentümer wird daher als Emiratszeit bezeichnet. Das Amt des Beys, der gleichzeitig als eine Art Feudalherr der Besitzer der Ländereien des Fürstentums war, wurde immer an männliche Nachkommen weitergegeben.

Die Menteşe-Fürsten

Das Fürstentum Menteşe wird daher auch nach seinem Gründer Sahil Bey Menteşe («Küstenherrscher Menteşe») auch als Menteşeoğulları – also «Menteşesöhne» – bezeichnet. Ihr Gebiet besteht vorrangig aus Ländereien, die vormals dem byzantinischen Reich angehörten und von ihnen erobert wurden. Mit der Formierung des Fürstentums im Jahr 1261 wurde das Gebiet um die heutige Stadt Muğla, das im Byzantinischen Reich in antiker Tradition als Karien bezeichnet wurde, eingenommen. Hierzu gehörte zu diesem Zeitpunkt auch die recht kleine Burgsiedlung Palatia. Sie befand sich auf dem ummauerten Kaletepe hinter seiner schützenden Zitadelle, die das alte Theater krönte. Mit der einstigen Großstadt Milet hatte sie nur noch die wiederverwendeten Steine der alten Gebäude gemeinsam. Ab dem Jahr 1293 musste Palatia Tribut an die Menteşefürsten zahlen.

Palatias Binnenhafen und der Handel in der Emiratszeit

Menteşe und seine Nachfolger machten sich den Flusshafen Palatias zunutze, um ihre Seemacht auszubauen. Zu dieser Zeit muss der Löwenhafen selbst trotz der zunehmenden Verlandung des Mäanders, der teilweise die frühere Küstenlinie nachzeichnete, noch schiffbar gewesen sein. Während des 14. Jh. entwickelte sich Palatia vom Heimathafen der Piraten, die im Auftrag der Menteşeoğulları vor der Küste plünderten, zu einem überregional bedeutsamen Handelsstützpunkt. Die Stadt prägte ihre eigenen Münzen, auf denen sich die Fürsten der Menteşe in lateinischer Schrift als «Herren von Palatia» (DOMINVS PALATIAE) bezeichneten.

Zentrale Punkte der Infrastruktur des Warenverkehrs waren im anatolischen Mittelalter vielerorts sog. Hane. Hane dienen als Standort des Marktes einer Siedlung oder Stadt, und gleichzeitig als Gasthaus für Reisende. Typisch für einen Han ist der offene Innenhof, um den sich ein- oder mehrstöckig viele kleine Räume und große Hallen gruppieren. Der sog. Han im Löwenhafen beziehungsweise am südlichen Humeitepe datiert in die erste Hälfte des 14. Jh.

Die wiederverwendeten Säulentrommeln im Innern der Hisar Moschee
Die wiederverwendeten Säulentrommeln im Innern der Hisar Moschee (Foto: Lisa Steinmann).

Minarette über dem Mäander

Die Einrichtung von vielen Moscheen und Gebetsräumen spricht dafür, dass sich immer mehr muslimische Bewohnerinnen und Bewohner in Palatia ansiedelten. Einige der kleineren Moscheen und Gebetsräume stammen aus dem Beginn der Emiratszeit, so die Hisar Moschee («Festungsmoschee»). Diese liegt direkt an der Burg auf dem Kaletepe. Das deutsche Grabungsteam taufte sie aufgrund der Innenarchitektur «Vier-Säulen-Moschee» und sie scheint der Umbau eines älteren Gebäudes zu sein. In dieses wurden die vier Säulen dezentral eingesetzt, um gemeinsam mit der nachgerüsteten Gebetsnische (Mihrab) die Gebetsrichtung nach Mekka (Qibla) anzuzeigen. Etwa in der Mitte des 14. Jhs. stiftete der Menteşe-Fürste Ibrahim Bey eine Külliye in Balat. Külliye werden heute die Baukomplexe um eine Moschee und die sie finanzierenden Stiftungen bezeichnet. Sie beinhalten – neben der Moschee – in der Regel Küchen, Bäder, Friedhöfe und Schulen. Aus der Einrichtung geht hervor, dass das Siedlungsgebiet nun wieder vergrößert wird, was sicherlich mit einer bedeutenden Bevölkerungszunahme einherging.

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Die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun vor 100 Jahren war eine absolute Weltsensation. Doch noch immer birgt dieser spektakuläre Fund unermessliche Forschungspotentiale. Gerade in den letzten Jahren gab es wieder zahlreiche Projekte zu den Befunden, aufwendige Restaurierungen und auch neue Forschungen zur Biografie und Familie des jungen Pharao.