Abstand halten in Zeiten bedrohlicher Seuchen – Knapp 2500 Jahre alte Erkenntnis

von Professor Dr. Florian Steger

In Zeiten der Pandemie mit Covid-19 verfügen wir aktuell weder über ein wirksames Medikament noch über eine Impfung, vielmehr greifen wir auf das effektive Gebot des Abstandhaltens zurück. Um diesen Abstand durchzusetzen, sind Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit geboten, immerhin stellen Ausgangsbeschränkungen Einschränkungen von Freiheitsrechten dar. Wie schwer es fällt, in den 1940er Jahren in der algerischen Stadt Oran diesen ‚ungeheuerlichen‘ Schritt zu tun, beschreibt Albert Camus in Die Pest mit einem langen Spannungsbogen, der schließlich in dem Zäsur setzenden Telegramm endet: „Pestzustand erklären, Stadt schließen“. Und ebenso unaufgeregt schließen sich die folgenreichen Worte an: „Man kann sagen, daß von diesem Augenblick an die Pest uns alle betraf (…) und es war unmöglich, auf Einzelfälle Rücksicht zu nehmen.“

Aus medizinhistorischer Sicht gibt es von Anfang an existenzielle Bedrohungen durch Seuchen. So breitete sich die Justinianische Pest seit 541 n.Chr. pandemisch über das gesamte Mittelmeergebiet aus, dauerte zwei Jahrhunderte und bedeutete für viele Menschen den Tod. Prokop kann hier als Zeitzeuge, der das Geschehen in Konstantinopel selbst erlebt hatte, herangezogen werden.

Die von Chronisten des 16. Jahrhunderts als „Schwarze[r] Tod“ bezeichnete Seuche von 1348 kostete in Europa 20 Millionen Menschen das Leben. Als Ursachen wurden neben einer göttlichen Bestrafung Miasmata, Luftverunreinigungen, erwogen und dagegen Schutzkleidung sowie Pestmasken mit wohlriechenden Substanzen in deren Nase eingesetzt. Seit 1374 ergriff man dann auch zuerst in Reggio Emilia 10 Tage und dann seit 1383 in Marseille 40 Tage – dem Begriff entsprechend quarantaine de jours – Quarantänemaßnahmen. Boccaccio beschreibt dies eindringlich in seinem Decameron. Die Schiffsrouten wurden kritisch verfolgt. Schiffe mit an der Pest Erkrankten mussten eine spezielle Flagge hießen und durften nicht anlegen. Es vergehen mehr als zwei Jahrtausende bis man der Pest effektiv etwas entgegenzusetzen hatte. So entdeckte im Jahr 1894 der Schweizer Biologe Alexandre Yersin den nach ihm benannten Erreger der Pest, das Bakterium Yersinia pestis. In der Folge wurde die Infektionskette beschrieben. Heute kann man Antibiotika geben und den Gefährdeten eine präventive Impfung anbieten.

Doch noch einmal zurück auf der historischen Zeitleiste: Im ersten Gesang der Ilias führt ein Frevel des Agamemnon gegen Apollon zu einer Seuche im Lager der Achaier, als sie Troja belagerten. Der Gott hatte die Seuche als Strafe durch Pfeile gesandt und musste besänftigt werden. Erst dann war zu erwarten, dass die Seuche wieder wich. Die Menschen verstanden solche Seuchen also noch meist als Strafen der Götter, nur langsam kamen in den zeitgenössischen medizinischen Lehrbüchern, zuerst in den Hippokratischen Schriften, natürliche Erklärungsversuche auf. Es wurden die Atemluft des Erkrankten und Miasmata ins Spiel gebracht. Auf die Idee, dass konkrete Erreger die Seuchen verursachten, kamen die Menschen lange nicht, auch wenn beispielsweise der frühneuzeitliche Arzt Girolamo Fracastoro mit seiner Idee der „Krankheitssamen“ den richtigen Weg einschlug.

430 v.Chr., ein Jahr nach Beginn des Peloponnesischen Krieges zwischen der Landmacht Sparta und der Seemacht Athen, stellte die Attische Seuche die Polis vor eine zusätzliche harte Prüfung. Athen war ohnedies schon von Sparta in arge Bedrängnis gebracht worden. Über die Seuche berichtete Thukydides (II 47,2–54,5) eindrücklich als Augenzeuge und selbst Betroffener, wie er schreibt: „(…) der ich selbst krank war und selbst andere leiden sah“ – hier in den Worten der Übersetzung von Landmann: „Denn die unfaßbare Natur der Krankheit überfiel jeden mit einer Wucht über Menschenmaß (…)“. Dabei beschrieb Thukydides auch die Idee, dass von den Erkrankten eine Ansteckungsgefahr ausging, sogar für die Tiere: „(…) und insbesondre war dies ein klares Zeichen, daß sie etwas anderes war als alles Herkömmliche: die Vögel nämlich und die Tiere, die an Leichen gehn, rührten entweder die vielen Unbegrabenen nicht an, oder sie fraßen und gingen dann ein. Zum Beweis: es wurde ein deutliches Schwinden solcher Vögel beobachtet; man sah sie weder sonst noch bei irgendeinem Fraß, wogegen die Hunde Spürsinn zeigten für die Wirkungen wegen der Lebensgemeinschaft.“ Aber auch für die Menschen, gerade für die, welche sich um die Erkrankten kümmerten, bestand Lebensgefahr: „Nicht nur die Ärzte waren mit ihrer Behandlung zunächst machtlos gegen die unbekannte Krankheit, ja, da sie am meisten damit zu tun hatten, starben sie auch am ehesten selbst (…)“. Weder die Heilkundigen, die Ärzte konnten helfen noch die Götter. So hielten sich die Gesunden von den Erkrankten fern, und nur die bereits Genesenen, modern würden wir sagen die Immunisierten, wagten sich an die Betroffenen heran. Die Kranken waren im Stich gelassen worden und mit der Krankheit allein: „Wenn sie nämlich in der Angst einander mieden, so verdarben sie in der Einsamkeit, und manches Haus wurde leer, da keiner zu pflegen kam; gingen sie aber hin, so holten sie sich den Tod, grad die, die Charakter zeigen wollten – diese hätten sich geschämt, sich zu schonen, und besuchten ihre Freunde (…). Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswußten und selbst nichts mehr zu fürchten hatten; denn zweimal packte es den gleichen nicht, wenigstens nicht tödlich“. Thukydides schildert plastisch die Symptome der Erkrankten. Und doch sollte man bei retrospektiver Diagnostik zurückhaltend sein, zu wenig weiß man über Details und zu sehr geht man von heutiger Sicht und Terminologie aus. 

Die sozialen Folgen waren bedrückend, auch wenn diese Seuche einmalig und lokal auf Athen beschränkt blieb. Plötzlich war der Glanz der Großmacht Athen getrübt. Mit den Spartanern kam die Seuche und leitete den Verfall ein. Die Bürgerinnen und Bürger waren von Mutlosigkeit, Verzweiflung und Angst vor Ansteckung gezeichnet: „Das Allerärgste an dem Übel war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte (denn sie überließen sich sofort der Verzweiflung, so daß sie sich innerlich viel zu schnell selbst aufgaben und keinen Widerstand leisteten), und dann, daß sie bei der Pflege einer am andern sich ansteckten und wie die Schafe hinsanken; daher kam hauptsächlich das große Sterben“. Letztlich fällt auch Perikles – nach schweren innenpolitischen Anfeindungen – der Seuche zum Opfer.

Abstand zu halten wurde schon bei der Attischen Seuche als probates Mittel eingesetzt, sich nicht anzustecken. Doch damit fehlte es zugleich an Zuwendung und Fürsorge dem Nächsten gegenüber. Einzig die Genesenen, welche die Krankheit bereits überstanden hatten, waren bereit zu helfen. Unter den Bürgerinnen und Bürgern breitete sich die Sittenlosigkeit aus, die Gesetze wurden missachtet: „Alle Bräuche verwirrten sich, die sie sonst bei der Bestattung beobachteten; jeder begrub, wie er konnte. Viele vergaßen alle Scham bei der Beisetzung, aus Mangel am Nötigsten (…). Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf (…). Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz (…)“. Der sittlich-moralische Verfall war unaufhaltsam geworden. Keiner darf in diesen Zeiten allein gelassen werden. Wozu das führen kann, hat uns schon Thukydides gezeigt.

Professor Dr. Florian Steger
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Universität Ulm
Parkstraße 11
D-89073 Ulm