Tutanchamun und die Hieroglyphen

von Katrin Laatsch

In diesem Herbst jähren sich zwei besondere Jubiläen zum 200. bzw. 100. Mal: die Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen durch den französischen Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion im Herbst 1822 und die Entdeckung des Grabes des Tutanchamun durch den Briten Howard Carter im ägyptischen Tal der Könige im Herbst 1922. Diese beiden für die Ägyptologie wegweisenden und bis in unsere Zeit hinein prägenden Ereignisse scheinen zunächst wenig miteinander zu tun zu haben – doch bei genauerem Hinsehen öffnet sich der Blick für manche Parallele im Leben der beiden Männer hinter den Sensationen sowie für die Erkenntnis, dass sich beide Entdeckungen über Ländergrenzen und Jahrhunderte hinweg bis heute gegenseitig befördern.

1798 zieht Napoleon Bonaparte, zu diesem Zeitpunkt Général de division der französischen Armee mit Expansions- und Bedeutungsdrang, mit einem rund 38000 Mann starken Heer nach Ägypten. Offizielles Ziel dieser Militäroperation ist die Befreiung der unterdrückten ägyptischen Bevölkerung, tatsächlich plant Napoleon, Ägypten zu einer Provinz der Französischen Republik zu machen und Englands Zuweg nach Indien zu unterbrechen. Aus politisch-militärischer Sicht wird das Unternehmen ein Desaster, der Wissenschaft erweist es jedoch einen unschätzbaren Dienst, denn 167 Mitglieder der Wissenschaftselite begleiten den Zug in das Land am Nil, der bis 1801 andauern wird. Ihre Aufgabe: die Kultur, die Flora und Fauna, die Geschichte und Kunstdenkmäler Ägyptens zu erforschen und zu dokumentieren. Sie sind Zeugnis Napoleons ambivalenter Ambitionen, der nicht nur Macht und militärischen Ruhm erlangen will, sondern auch davon träumt, als Kulturbringer in die Fußstapfen Caesars und Alexander des Großen zu treten.

Zur gleichen Zeit, im März 1801, zieht der 1790 geborene Sohn eines Buchhändlers aus dem südfranzösischen Figeac zu seinem älteren Bruder in das gut 450 km entfernte Grenoble. Wie die meisten seiner Zeitgenossen verfolgt er mit großer Faszination die Veröffentlichungen der Entdeckungen der heimkehrenden französischen Expedition, die in Zeitungen und Magazinen publikumswirksam aufbereitet werden. Sein Name ist Jean-François Champollion. In den märchenhaft anmutenden Berichten und auf den fantastischen, fremdartigen Bildern tauchen auch immer wieder rätselhafte Zeichen auf: altägyptische Hieroglyphen. Bereits seit Jahrhunderten hatten Gelehrte immer wieder versucht, sie zu entschlüsseln. Doch seit das Schriftverständnis vermutlich im 4. Jh. n. Chr. erloschen war, schwiegen die Zeichen. 394 n. Chr. wurden sie ein letztes Mal für eine Namensinschrift auf der ägyptischen Insel Philae genutzt. In den folgenden Jahrhunderten wurden die Hierglyphen zu einer Geheimschrift verklärt, und man glaubte, dass darin Kenntnisse über zahllose Wunder des Altertums verborgen lägen. Jean-François war das jüngste von sieben Kindern der Familie Champollion. Mit Blick auf Aussehen und Temperament unterschied er sich stark von seinen Geschwistern: Seine Haut war dunkler, er war aufbrausend, ungeduldig und gleichzeitig wohl von wenig robuster Gesundheit. Das offenbar distanzierte Verhältnis Champollions zu seinen Eltern veranlasst manche Biografen zu der Vermutung, dass er das Ergebnis einer außerehelichen Liaison seines Vaters gewesen sein könnte. Seinem zwölf Jahre älteren, sehr viel besonneneren und taktisch stets klug agierendem Bruder Jacques-Joseph fiel daher die vermutlich selbst gewählte Aufgabe zu, dem ungestümen, aber hochbegabten jüngeren Champollion eine gute Ausbildung und finanzielle Basis zu bieten, von der aus er sich seinem leidenschaftlichen Studium alter Sprachen widmen konnte.

84 Jahre später im Jahr 1874 geboren, war Howard Carter ebenfalls das jüngste von insgesamt elf Kindern des Tiermalers und Zeichners Samuel John Carter und seiner Frau Martha Joyce. Im Alter von nur 17 Jahren kam Carter 1891 erstmals nach Ägypten: Es waren 90 Jahre vergangen, seitdem Champollion nach Grenoble gezogen war, als Carter in Ägypten auf Empfehlung des Parlamentariers Baron Amherst of Hackney für den in London ansässigen Egypt Exploration Fund (heute Egypt Exploration Society) als Zeichner tätig wurde. Sein künstlerisches Talent öffnete ihm manche Tür, und nach nur wenigen Wochen arbeitete er in Tell el-Amarna unter William Matthew Flinders Petrie (1853-1942). Carter nahm Gräber aus der Zeit des häretischen Pharaos Echnaton auf, der im 14. Jh. v. Chr. die alten Götter verbannt und stattdessen den ersten bekannten Monotheismus der Menschheitsgeschichte eingeführt hatte: den Aton-Kult. Auch wenn diese neue Religion mit Echnatons Tod verfiel, wirkte die einzigartige Bildsprache, die sich unter seiner Herrschaft entwickelt hatte, in den folgenden Jahrhunderten bis zum Ende der Pharaonenzeit nach.

Ausschnitt aus der Rückenlehne des Throns aus dem Grab des Tutanchamuns. Zu sehen ist der sitzende Pharao zusammen mit seiner Königin.
Rückenlehne des Throns aus dem Grab des Tutanchamun. Zu sehen sind Tutanchamun (links, sitzend) und seine Große Königliche Gemahlin Anchesenamun (Foto: akg-images / De Agostini Picture Lib. / G. Dagli Orti).

1893-99 fertigte Carter für Édouard Naville Zeichnungen von den Reliefs, Malereien und Inschriften im Totentempel der Königin Hatschepsut in Deir el-Bahari an. Mit seinen Wasserfarbengemälden konservierte er jedes kleinste Detail und erhielt auch für nachfolgende Wissenschaftlergenerationen die fantastischen, lebendigen Farben der altägyptischen Texte und Dekorationen. Es ist diese Zeit in den 1890er Jahren, in denen Carter hands-on von seinen Lehrmeistern Petrie und Naville die Grundlagen der Archäologie und speziell der Ägyptologie erlernt – dazu gehörte auch das Lesen hieroglyphischer Inschriften. 1899 wurde Carter zum Oberinspektor in Oberägypten und Nubien ernannt und machte die Bekanntschaft des US-Amerikaners Theodore M. Davis, dessen Grabungsarbeiten im Tal der Könige er ab 1902 beaufsichtigte. Carter ließ Restaurierungsarbeiten in mehreren Anlagen im Tal durchführen sowie 1903 einige von ihnen mit elektrischem Licht ausstatten. Er war sich der Bedeutung der Konservierung für den Erhalt der erschlossenen Gräber ebenso bewusst wie der Tatsache, dass das Verständnis der altägyptischen Kultur maßgeblich auch auf dem Verständnis der altägyptischen Texte fußte.

Rund 100 Jahre zuvor, ab 1802, besuchte der junge Champollion auf Betreiben seines Bruders eine Privatschule, auf der sich seine Sprachbegabung wie im Zeitraffer entfaltete: auf Latein und Griechisch folgten Hebräisch, Arabisch, Syrisch und Chaldäisch. Die romantisierende Geschichte, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt Joseph Fourier (1768-1830), dem gerade neu ernannten Präfekten des Isère-Departements, zu dem Grenoble gehörte, begegnet sei und dieser ihn auf einen Besuch in seine private Sammlung altägyptischer Altertümer eingeladen habe, ist laut moderner Biografen wohl eher in das Reich der Fantasie zu verweisen. Fourier hatte Napoleon auf seiner Ägypten-Expedition begleitet und war in dessen Auftrag an der Erstellung der monumentalen, großformatigen Buchreihe Description de l’Égypte beteiligt. Wahrscheinlicher ist, dass Champollion und er irgendwann zwischen 1804 und 1806 aufeinandertrafen, zwar nicht in intimer Atmosphäre zu zweit, aber im Rahmen eines Schulbesuches der Präfektur, bei dem Champollion möglicherweise nicht nur Gelegenheit hatte, die dort ausgestellten Objekte zu bewundern, sondern auch Ausführungen von Fourier dazu zu lauschen. Als sicher gilt, dass Champollions älterer Bruder und Fourier ab 1803 in einen regen wissenschaftlichen Austausch eintraten, in dem es u. a. um den Stein von Rosette ging, das Fragment einer Stele, das im ägyptischen Nildelta nahe der Stadt Rosette im Rahmen der Napoleonischen Expedition gefunden worden war. Der Text der Stele war in drei untereinanderstehenden Schriftblöcken arrangiert, die in Hieroglyphen, Demotisch bzw. Altgriechisch verfasst waren. Champollions Begeisterung für das Alte Ägypten war erwacht, und ihm wurde klar, dass nur die Entzifferung der Hieroglyphen das Tor zum Verständnis dieser Kultur öffnen konnte. Der etwa 15-Jährige beschloss, dass er es sein würde, der die altägyptische Schrift entzifferte.

Schwarz-weiß Fotografie von Howard Carter und Lord Carnarvon nach der Freilegung des Grabs von Tutanchamun im November 1922.
Howard Carter (1874 – 1939, links) und Lord Carnarvon (1866 – 1923) im November 1922 während der Freilegung des Grabes des Tutanchamun (Foto: akg-images / WHA / World History Archive).

Howard Carters Beschäftigung bei der ägyptischen Altertümerverwaltung endete 1905 abrupt. Nach Handgreiflichkeiten zwischen angetrunkenen französischen Touristen und Wachleuten im Dienst von Carters früherem Förderer Flinders Petrie, stellte Carter sich auf die Seite der letzteren und wurde daraufhin entlassen, vermutlich, um einen internationalen Zwischenfall zu vermeiden. Dies hielt den damaligen Verwaltungsdirektor Gaston Maspero jedoch nicht davon ab, Carter mit dem britischen Aristokraten und Hobby-Archäologen George Edward Stanhope Molyneux Herbert, 5. Earl of Carnarvon (1866-1923), bekannt zu machen. Die Männer waren sich auf Anhieb sympathisch, und ihre Zusammenarbeit begann 1907.

Zu diesem Zeitpunkt war Carter bereits fest davon überzeugt, dass im Tal der Könige das Grab eines ansonsten kaum bekannten Pharaos namens Tutanchamun zu finden sein müsse. 1905 und 1906 hatte er selbst bei einer Grabungskampagne Objekte mit den Kartuschen des Königs identifiziert. Unterstützt sah er seine These v. a. durch einen von Theodore Davis entdeckten Fayencebecher mit dem Namen Tutanchamuns sowie Einbalsamierungsmaterial, das Davis 1907 in KV54 (dem sog. „Balsamierungsdepot“) gefunden hatte. 1909 entdeckte Davis außerdem Goldfolien mit dem Namenszug des Herrschers und seiner Großen Königlichen Gemahlin Anchesenamun. In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1912 kam er jedoch zu dem Schluss, dass KV54 das Grab des Tutanchamun gewesen sein müsse und dass das Tal der Könige archäologisch erschöpft sei. Für Carter war dies ein herber Rückschlag, der ihn aber nicht an seinen Überzeugungen zweifeln ließ. Als Davis 1913/14 seine Grabungslizenz für das Tal der Könige zurückgab, überzeugte Carter Carnarvon, diese zu erwerben.

1808, im Alter von 18 Jahren, beherrschte Champollion bereits acht alte Sprachen und befasste sich vermutlich erstmals mit dem Stein von Rosette. Über Jahrhunderte hatten Forscher geglaubt, dass die Hieroglyphen Bildzeichen seien bzw. einzelne Zeichen für z. T. hochkomplexe Gedankengänge stünden. Diesen Ansatz hatte bereits der griechische Geschichtsschreiber Diodor im 1. Jh. v. Chr. formuliert und zu einer Art Dogma entwickelt, dem sich im 5. Jh. n. Chr. in ähnlicher Form der ägyptische Philosoph Horapollon mit seinem zweibändigen Werk Hieroglyphica angeschlossen hatte. Davon ausgehend waren frühe Übersetzungsversuche reine Fantastereien, die den Hieroglyphen willkürlich Symbolwerte und Aussagen beimaßen. Im 17. Jh. beschäftigte sich der deutsche Jesuitenpater und Gelehrte Athanasius Kircher (1602-1680) mit den Hieroglyphen und glaubte darin ein in Symbolschrift verschlüsseltes Geheimwissen zu erkennen (ein Gedanke, der von den Freimaurern aufgegriffen wurde). Champollion wurde jedoch bald klar, dass diese Entschlüsselungsansätze nicht weiterführten. 1814 stellte der Brite Thomas Young, ein herausragender Physiker, Augenarzt und Universalgelehrter, bei eigenen Untersuchungen einer Kopie des Steins von Rosette die These auf, dass die in Kartuschen eingeschlossenen Zeichen die Namen von Königen darstellten und phonetisch gelesen werden müssten. Dies war ein radikal neuer Ansatz und zugleich der erste entscheidende Schritt zur Entschlüsselung der Hieroglyphen. 1815 nahm Champollion Kontakt zu Young auf. Obwohl sich zwischen den beiden Männern zunächst ein wissenschaftlicher Austausch zu etablieren schien, wurden sie schon bald zu erbitterten Rivalen, die sich ihre inhaltlichen Fortschritte bewusst vorenthielten. Champollion kam schließlich auf den Gedanken, eine quantitative Analyse durchzuführen. Er zählte die hieroglyphischen Zeichen und verglich sie mit der Anzahl der griechischen Buchstaben: Von ersteren gab es rund drei Mal mehr. Für Champollion war dies der Beweis, dass auch die Hieroglyphen außerhalb der Kartuschen v. a. phonetische Informationen kodieren mussten. Sie konnten nicht immer für ganze Wörter oder ganze Gedankengänge stehen, denn dann wäre der hieroglyphische Text inhaltlich extrem viel umfangreicher als sein griechisches Pendant, und das hätte der Annahme widersprochen, dass alle drei Texte inhaltsgleich waren. Champollion gab daraufhin das seit Diodor und Horapollon tradierte Dogma der Bildsprache auf. Der Weg zur Entzifferung der Hieroglyphen war frei.

Für Howard Carter waren die Grabungssaisons 1917 bis 1921 ernüchternd. Systematisch durchkämmte er mit seinen Arbeitern die Talfläche und ließ Sand und Schutt bis auf den Felsgrund abtragen. Doch sie fanden nichts von Bedeutung. 1921 plante Lord Carnarvon daher, seine Finanzierung der Arbeiten zu beenden und die Grabungslizenz zurückzugeben. Bei einem Besuch in England drängte Carter 1922 noch einmal leidenschaftlich auf die Fortsetzung der Suche und bot dem Lord an, weitere Arbeiten aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Schließlich stimmte dieser einer letzten Grabungssaison zu. Ende Oktober 1922 kehrte Carter nach Luxor zurück. Der Erfolgsdruck war groß.

Porträt von Jean-François Champollion.
Porträt von Jean-François Champollion, um 1831 (Foto: akg-images / De Agostini Picture Lib. / G. Dagli Orti).

In den Jahren um 1820 beschäftige sich Champollion bei seinen Untersuchungen nicht nur mit dem Stein von Rosette, sondern arbeitete auch mit anderen Quellen, von denen einige in der Description de l’Égypte veröffentlicht waren. Wie Young war ihm die Entzifferung ptolemäischer Königsnamen gelungen, doch er war es, der dieses Vorgehen auch auf Pharaonennamen der weiter zurückliegenden Vergangenheit anwandte und schnell Erfolge erzielte. So gelang es ihm u. a., die Namen von Ramses II. und Thutmosis III. zu lesen. Er stellte die These auf, dass Hieroglyphen unterschiedliche Funktionen im Text erfüllen konnten: Viele besaßen Lautwerte (Phonogramme), manche standen für ganze Wörter (Logogramme) und wieder andere wurden gar nicht ausgesprochen, sondern dienten der Bestimmung des inhaltlichen Kontextes (Determinative). Mit dieser genialischen Idee hatte Champollion die Probleme, die Young in seinen Übersetzungsversuchen nicht hatte lösen können, überwunden und war der Entzifferung der Hieroglyphen ganz nahe. Der finale Durchbruch gelang ihm wohl während eines Besuches bei seinem Bruder, der ihn so viele Jahre unterstützt hatte. Am 14. September 1822 soll er ausgerufen haben „Ich habe es!“ und dann vor lauter Aufregung ohnmächtig geworden sein. Sicher ist, dass Champollion am 22. September 1822 mit dem Lettre à Monsieur Darcier die Mitglieder der französischen Akademie der Wissenschaften über seine erfolgreiche Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen informierte. Es war die Geburtsstunde der Ägyptologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin.

100 Jahre und knapp anderthalb Monate später nahmen Howard Carter und sein Team am 1. November 1922 die Arbeiten im Tal der Könige wieder auf. Nur drei Tage später, am 4. November, ereignete sich, worauf Carter seit Jahren gehofft hatte. Ein Junge, der dem Grabungsteam Wasser ins Tal brachte, stieß beim Abstellen eines Kruges im Sand überraschend auf festen Stein: eine Stufe! Carter ließ die Treppe freilegen und fand an ihrem Ende eine vermauerte Wand mit intakten Siegeln der Nekropole, ein wichtiges Indiz für die Unversehrtheit eines Grabes. In erregter Stimmung schickte er ein Telegramm an Lord Carnarvon: „Habe endlich wunderbare Entdeckung im Tal gemacht. Prächtiges Grab mit intakten Siegeln. Bis zu Ihrer Ankunft wieder zugeschüttet. Gratulation. – Howard Carter“ Einen noch besseren Einblick in Carters emotionale Verfasstheit gewährt ein Blick in sein Tagebuch, in dem er üblicherweise – stets korrekt auf den Linien – in kurzer Form die Geschehnisse des Tages festhielt: Ereignisse am Grabungsort ebenso wie Verabredungen zum Mittag oder Treffen mit Freunden und Kollegen. An diesem 4. November aber, einem Samstag, kritzelte er entgegen seiner Gewohnheit aufgeregt quer über die Seite nur eine einzige Zeile: „Erste Stufen eines Grabes gefunden.“

Schwarz-weiß-Fotografie von einem Jungen, der einen Teil des Schmucks aus dem Grab des Tutanchamun trägt.
Der junge Hussein Abd el-Rassul mit einem Pektoral aus dem Grabschatz des Tutanchamun. Vermutlich war er es, der die erste der zum Grab hinabführenden Stufen entdeckt hatte (Foto akg-images).

Der Rest ist Geschichte, wie man so sagt – und dies gilt für beide der hier beschriebenen Entdeckungen. Von besonderem Interesse ist in diesem Fall, in welchem Maße sich beide Ereignisse, ganz ohne das Zutun ihrer Akteure, bis heute beeinflussen. Die Entdeckung des Grabes des Tutanchamun und die Entzifferung der Hieroglyphen wären auch jeweils ohne einander Sensationen gewesen: Doch eine Auseinandersetzung mit den Schätzen des Tutanchamun ohne die Fähigkeit, die auf ihnen angebrachten Schriftzeichen lesen zu können, erscheint heute geradezu absurd. Ohne das Genie Champollions aber wäre die Entzifferung der Hieroglyphen vielleicht in den Anfängen Youngs steckengeblieben und die Welt der Alten Ägypter, ihr Denken, ihr Glauben, ihre Überzeugungen, wären bis heute unverstanden geblieben. Champollion wurde von der Welle der Ägyptomanie getragen, welche die Expedition Napoleons und die sagenhaften Artefakte und Bilder ausgelöst hatten, die die Wissenschaftler zurück nach Frankreich brachten. Carters Entdeckung des Tutanchamun-Grabes löste rund 100 Jahre später selbst eine neue Ägyptomanie aus, welche bis heute nur wenig von ihrer Wirkmacht verloren hat: 1980/81 war die damals weltweit tourende Ausstellung „Tutanchamun“ in fünf deutschen Großstädten zu sehen und ist bis heute eine der am meisten besuchten Kunstausstellungen in Deutschland. Seit 2008 hat eine aufwendige Replikenschau schon mehr als 6,5 Mio. Besucher in ihren Bann gezogen. Und keine Ausstellung zu Tutanchamun verzichtet auf die Übersetzung der Inschriften auf seinen Schätzen sowie eine Biografie des Entzifferers der Hieroglyphen. Howard Carter und Jean-François Champollion verweisen über die Distanz von 100 Jahren aufeinander, und wer ihre Arbeit betrachtet, erkennt, dass das eine Ereignis ohne das andere heute vielleicht viel weniger im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit stünde. Wie bekannt wäre Champollions Übersetzungsleistung ohne Carters Entdeckung des Grabes des Tutanchamun, das die Lesbarkeit der Hieroglyphen nicht mehr nur für einen kleinen Kreis von Fachleuten relevant machte, sondern ein breit gestreutes Interesse an den hieroglyphischen Inschriften wachrief? Und was wäre Carters Fund ohne Champollions Entzifferung, ohne die der Name Tutanchamun niemals bekannt geworden wäre und Carter niemals so gezielt nach dem Pharao hätte suchen können? Auf dem vermauerten Eingang des Grabes prangten nicht nur die Siegel der Nekropole, sondern auch Eigen- und Thronname des jungen Herrschers: Tutanchamun, Neb-cheperu-Re (Herr der Erscheinungen ist Re). Carter, der unbeirrbar über viele erfolglose Jahre im Tal der Könige sein Ziel fest im Blick behalten hatte, konnte diese nur deshalb lesen, weil 100 Jahre zuvor ein junger französischer Sprachforscher sich über alte Dogmen hinweggesetzt und sich nicht hatte beirren lassen – und schließlich die altägyptischen Hieroglyphen entziffert hatte.

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