Eine schottische Lady in Etrurien

Im Jahre 1839 unternahm Mrs. Hamilton Gray aus Glasgow zusammen mit ihrem Ehemann eine Reise durch Etrurien. Über diese Reise veröffentlichte sie im Jahre 1840 ein Buch, das eine Art Startschuss für die Beschäftigung Englands mit den Etruskern wurde. Die Lady begründete sozusagen die Etruskologie in Großbritannien.

Von Klaus Koschel †

Reisen in Gebiete des Mittelmeeres, v. a. nach Griechenland und Italien aber auch nach Kleinasien, waren seit dem 18. Jh. Unternehmungen des englischen Adels und reicher Intellektueller. Im 19. Jh. kam die Reise nach Ägypten hinzu. Die «Grand Tour» diente zur Erweiterung des geistigen Horizontes junger Adeliger und vermögender Bürgersöhne aber auch für ernste Studien durch Gelehrte. Obwohl es schon im 17./18. Jh. in der Toskana Heimatforscher gab, die sich aus Lokalpariotismus auch den Etruskern widmeten, weckten ihre Forschungen, wenn überhaupt, nur in Italien Interesse. Die Etrusker gehörten nicht zum Kanon klassischer Bildung. Anders wurde das im 19. Jh.

Die Reise von Mrs. Hamilton Gray

Porträt von Lady Caroline Elizabeth Hamilton Gray. Zu sehen ist eine ältere Frau, die ein schwarzes hochgeschlossenes Kleid trägt. Darunter ist der Kragen einer ebenfalls hoch geschlossenen Bluse zu sehen. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt und nach hinten gesteckt. Ein langes Tuch bedeckt die Hälfte ihrer Haare.
Abb. 1: Porträt von Lady Caroline Elizabeth Hamilton Gray (Foto: Williams, Dyfri (2009). „The Hamilton Gray Vase“, in J. Swaddling / P. Perkins (Hrsg.). Etruscan by Definition: Papers in Honour of Sybille Haynes. London: British Museum Press. p. 10).

Die Beteiligung Englands an der Erforschung Etruriens begann mit Lady Caroline Elizabeth Hamilton Gray (1801–1887) aus Glasgow (Abb. 1. Vgl. Infokasten). Sie machte mit ihrem Ehemann im Jahre 1839 Etrurien zum Ziel ihrer Reise. Anschließend schrieb sie ein Buch mit zahlreichen Tafelabbildungen und Karten unter dem Titel Tour to the Sepulchres of Etruria in 1839 (Abb. 2). Das Buch hatte großen Erfolg. Es erlebte bis zum Jahr 1843 drei Auflagen und weckte so das Interesse der gebildeten englischen Welt, sich mit der Kultur der Etrusker zu befassen.

Für den Engländer, Georg Dennis, war dieses Buch der Anlass, sich 1842 und 1847 für eigene umfangreiche Studien zu den archäologischen etruskischen Stätten in Latium und der Toskana zu begeben. Er war der Meinung, dass Mrs. Hamilton Grays Buch zwar nützlich, aber doch unvollkommen und zu wenig gründlich war. Bei seiner ersten Reise nach Etrurien 1842 hatte Dennis den tüchtigen Maler Samuel Ainsley an seiner Seite, der zahlreiche etruskische Stätten genau zeichnete. Das Ergebnis von Dennis´ Studien war das im englischsprachigen Raum des 19. Jhs. umfangreichste zweibändige Werk über die Etrusker: The Cities and Cemeteries of Etruria. Es enthielt neben genauen Schilderungen der Gräber, Kulturstätten und typischen Kunstwerken ganz Etruriens detaillierte Karten und Abbildungen. Dieses umfangreiche Werk erlebte später, 1878 und 1883 zwei weitere Auflagen und erschien sogar auf Deutsch (1852). Wegen der Detailgenauigkeit wird es noch heute in der Forschung benutzt, vor allem, da manche archäologischen Plätze heute nicht mehr existieren oder in ihrer historischen Substanz völlig entstellt sind.

Der Lebensweg von Lady Hamilton Gray

  • 1801: Geburt von Caroline Elizabeth Johnston of Alva in Glasgow.
  • 1828: Kennenlernen von John Hamilton Gray of Carntyne (1800–1867).
  • 1829: Heirat. John hatte am Magdalen College in Oxford und an der Universität Göttingen Jura studiert. Durch eine Krankheit änderte sich sein Lebensweg    und er wurde noch im gleichen Jahr Hilfsgeistlicher in Bolsover und Scarliff, Derbyshire. Das Paar zog nach Bolsover Castle.
  • 1832: Elizabeth erkrankte. Das Ehepaar ging nach Genua in Italien. Da die Krankheit sich verschlimmerte, reisten sie beide nach Göttingen zurück. John verbesserte dort sein Hebräisch, und Elizabeth begann ebenfalls Hebräisch zu studieren und lernte sehr gut Deutsch, so dass sie später Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische machen konnte.
  • 1833: Elizabeth gebar eine Tochter, Robina, und die Familie kehrte Ende des Jahres nach England zurück.
  • 1835: Geburt einer zweiten Tochter, die aber nach 3 Monaten verstarb.                    
  • 1836: Wiedererkrankung Elizabeths. Reise nach Schwalbach in Deutschland, dann aber Rückkehr nach England.
  • 1837: Der Wendpunkt: Eine Etrusker-Austellung der Gebrüder Campanari in   London. Reise durch Deutschland (mit Zwischenaufenthalt in München und Frankfurt a. M.) nach Italien.
  • 1838: Januar. Ankunft in Rom und Aufenthalt für fast 2 Jahre.
  • 1840: Buchpublikation Tour to the Sepulchres of Etruria in 1839. Bis 1843 erschienen zwei weitere Auflagen.
  • 1843–1844: History of Etruria (2 Teile; Teil 3 folgte 1868).
  • 1847: Buchpublikation History of Rome for Young Persons.
  • 1850: Buchpublikation Emperors of Rome from Augustus to Constantine, being the continuation of the History of Rome for Young Persons.
  • 1857: Buchpublikation The Empire and the Church, from Constantine to Charlemagne.
  • 1867: Tod des Ehemanns, Reverend Hamilton Gray.
  • 1868: Autobiography of a Scotch Country Gentleman […] Edited by His Widow.
  • 1882: Tod der Tochter Robina. Elizabeth verlässt Bolsover Castle.
  • 1887: Februar. Tod von Caroline Elizabeth Hamilton Gray.

Eine Etrusker-Ausstellung in London

Den ersten Kontakt mit der etruskischen Kultur und Kunst vermittelte den Hamilton Grays im Jahr 1837 eine spektakuläre Ausstellung in London. In der Pall Mall, gegenüber den Opernkolonnaden, fand die erste Ausstellung etruskischer Antiken außerhalb Italiens durch die Gebrüder Campanari statt. Die Campanaris hatten in den Nekropolen von Tarquinia, Tuscania und Vulci gegraben und zahlreiche Antiken gefunden. Die Ausstellung zeigte sie im Ambiente etruskischer Grabkammern bei Fackelbeleuchtung und mit Wandmalereien aus Tarquinia in sehr guten Kopien von C. Ruspi. In einem Saal waren auch verkäufliche Vasen ausgestellt. Über die Ausstellung berichtete THE TIMES OF LONDON am 26.01. 1837:

«There is now at 121 Pall Mall a very extraordinary and interesting exhibition of Etruscan and Greek antiquities and it would be writing a classical treatise on Etruscan antiquity to describe the whole of its contents.» (Übers.: «Es gibt jetzt in 121 Pall Mall eine sehr außergewöhnliche und interessante Ausstellung von etruskischen und griechischen Antiquitäten, und es würde eine klassische Abhandlung über die etruskische Antike bedürfen, um den gesamten Inhalt zu beschreiben»).

Das Ehepaar war fasziniert. Nach Ende der Ausstellung erwarb das British Museum die Kopien von Ruspi und einen großen Teil der Fundobjekte.

In Italien: Studien in Rom

Ende 1837 reiste das Paar wegen des Winters und der angegriffenen Gesundheit Elizabeths mit Zwischenaufenthalt in Frankfurt a. M. und München nach Italien.

Titelseite des von Lady Caroline Elizabeth Hamilton Gray veröffentlichten Buchs. Neben dem Titel und der Autorin ist eine Widmung zu lesen: "Ere yet decay's effacing fingers have swept the lines where beauty lingers, go bend thee o'er the illustrious dead".
Abb. 2: Titelseite von „Tour to the Sepulchres of Etruria (Foto aus: Tour to the Sepulchres of Etruria in 1839).

In Pisa trafen sie Giuseppe Micali (1769–1844), den damals besten Kenner des vorrömischen Italiens. Er ermunterte sie, eine Tour durch Etrurien zu machen, warnte aber (Zitat), dass «dort Schwierigkeiten auftreten könnten, wenn eine Dame die Gräber besucht, (nämlich) wegen der Wildheit des Landes, und dem Mangel an Unterkünften[…]» (S. 14). Das Ehepaar erreichte wohl im Januar 1838 Rom.

Dort besuchten beide führende Antikenhändler, die oftmals auch Grundbesitzer oder Mieter von etruskischen Stätten waren, sowie eine Reihe von Museen und Sammlungen: Die Vatikanischen Museen, das Museum Dodwell am Fuß des Kapitols, sowie das Haus von General Vinzenzo Galassi, wo die 1836 gemachten großartigen Funde des später nach den Entdeckern Regolini-Galassi-Grab genannten Fundortes in Cerveteri im Jahr 1838 noch ausgestellt waren. Die Objekte kamen kurz danach als Glanzpunkte etruskischer Kunst in das Museo Gregoriano in den Vatikan.

Ferner wurde die Sammlung des Cavaliere de Palin besucht, einst Schwedens Botschafter in Konstantinopel sowie die umfangreiche Antikensammlung des Cavaliere Giampietro Campana (1808−1880), dessen Name noch heute mit den sog. Campana-Reliefs verbunden ist. Dessen Sammlung wurde nach Paris, London und St. Petersburg verkauft, denn er hatte bei der Verwaltung der päpstlichen Finanzen Unregelmäßigkeiten begangen, wurde zu 20 Jahren Galeere verurteilt, aber vom Papst zu Exil begnadigt. Schließlich sahen die Eheleute auch noch die Sammlung des Jesuitenkollegs, nach dem deutschen Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602 – 1680) «Museum Kircherianum» genannt.

Ganz besonders wichtig war dem Ehepaar die Teilnahme an Vorträgen im Istituto di Corrispondenza Archeologica, dem späteren Deutschen Archäologischen Institut auf dem Kapitol. Die National Library of Scotland bewahrt ein Notizbuch, in das Reverend Hamilton Gray sich Notizen zu den Vorträgen und Diskussionen gemacht hat. Hier lernten sie bedeutende Persönlichkeiten der damaligen archäologischen und kunstgeschichtlichen Welt kennen (S. 21): Baron von Bunsen (1791–1860), preußischer Minister und Gesandter am Heiligen Stuhl, den Ägyptologen Richard Lepsius (1810–1884). Dieser machte 1842–1845 seine bahnbrechende Ägyptenexpedition. Besonders befreundet waren die Hamilton Grays mit August Kestner (1777–1853), Kunstforscher, Sammler und ab 1825 Geschäftsträger Hannovers in Rom; Emil Braun (1808–1856), Archäologe und Kunstgeschichtler; Luigi Canina (1795–1856), Architekt und Topograph des antiken Rom; Heinrich Abeken (1809–1872), preußischer Diplomat und ev. Theologe; Heinrich Meyer (1802–1871), Schweizer, Numismatiker und Philologe. Diese Personen spielten in ihren Funktionen für das Institut auf dem Kapitol eine bedeutende Rolle.

Auf Touren mit den Archäologen Antonio Nibby (1792–1839) und Emil Braun studierte das Ehepaar auch die Kunstschätze Roms.

Studien bei den Etruskern

Schließlich folgten die Hamilton Grays dem in Pisa von Micali erhaltenen Rat, die etruskischen Stätten zu besuchen: Veji, Monte Nerone bei Pyrgi, Tarquinia, Toscanella, Cerveteri, Castel d´Asso und Chiusi waren die Ziele. Ihr Besuch ist Inhalt des Buches von Elizabeth Hamilton Gray. Sie bringt dabei nicht nur Beschreibungen der Örtlichkeiten, sondern widmet sich auch den geschichtlichen Zusammenhängen nach den antiken Quellen ohne aber einen wissenschaftlichen Anspruch zu erheben. Sie betont in ihrem Buch (S. 147):

«Es sei hier bemerkt, dass ich für den unwissenden und vergnügen-liebenden Reisenden schreibe und nicht für die Gelehrten und Antiquare.»

Eine «Ausgrabung» in Veji

Die Touren des Ehepaares begannen mit einem abenteuerlichen Besuch von Veji. Im Februar 1839 erhielt das Ehepaar eine Einladung des führenden Antikenhändlers Francesco Capranesi, dort an der Öffnung eines Grabes teilzunehmen. Elizabeth beschreibt den etwas mühseligen Anmarsch zu der Nekropole am Pozzo S. Michele. Arbeiter hatten vorher schon das Grab freigelegt. Dann folgt Elizabeths interessante Schilderung (S. 81–82):

«Als wir ankamen, war der Eingang des Grabes schon freigelegt und wir standen am Rand einer tiefen Grube, etwa 10 Fuß tief, sahen auf den grob gewölbten Eingang, gefüllt mit losen Steinen. Er war in den harten Tuff-Felsen eingehauen aus dem der Hügel besteht, ganz anders als die reiche lockere, tiefe Erde, welche wir überall herumliegen sahen und die von der Hand antiker Arbeit dorthin gebracht worden war, um das Grab vor hunderten von Jahren zu bedecken und zu schützen. Auf jeder Seite des gewölbten Eingangs gab es einen kleineren Bogen, der in eine kleine offene völlig leere Kammer führte. Die Arbeiter machten einige Stufen aus der Erde, die sie aufgeworfen hatten. Ich sprang auf den Grund herunter, nachdem ihre Spitzhacken die Steine vor der Haupttür entfernt hatten. Ich betrat das Grab, eine einzelne in den Felsen gehauene gewölbte Kammer, etwa zehn oder zwölf Fuß im Quadrat und etwas niedrig; es war so dunkel, dass ich eine Fackel haben mußte, die ein Arbeiter innerhalb der Tür hielt, dass ich selbst die Anordnung des Grabes und was es enthielt, sehen konnte. Der Boden war eine Art loser Schlamm. Sowohl Erde und Nässe waren durch ein Loch eingedrungen, das sich über der Tür befand, weil ein Schlussstein fehlte. In diesem Schlamm lagen über zwanzig Vasen, große und kleine, verschiedener Form, darunter zwei davon mit vier Henkeln; aber  alle bestanden aus grobem Ton mit grober Zeichnung, hauptsächlich aus Kreisen oder Dreiecken in Rot oder Schwarz, auch Fische oder andere einfache Objekte, jedoch keine mythologischen Gegenstände […] Die schwarzen Vasen waren hauptsächlich gestempelt, keine davon so reich wie die Volterravasen und keine mit einem feinen  Überzug […] Das gewölbte Grab enthielt nichts weiter; keinen Sarkophag, −obwohl der Platz markiert war, wo er einst stand,− kein Gold, keine Bronze, keine Stein- oder Tonfiguren, keine Marmorobjekte.  Rundherum gab es ein Bord, breit genug für Urnen oder Vasen, Opfergaben für den Toten. Hier und da gab es Nischen, die einen Fuß oder so über dem Bord in den Felsen hineingingen. Das Grab war offensichtlich schon früher ausgeraubt, aber wann und vom wem, wer will das sagen.»

Die gestempelten schwarzen Vasen und die Vasen mit geometrischer Verzierung weisen auf ein Grab des 8.–7. Jahrhunderts hin. Dann schreibt Elizabeth (S. 83–84):

«Die im Grab gefundenen Vasen wurden unter unsere Gruppenteilnehmer aufgeteilt und wurden mehr als Erinnerung gesehen als Gegenstände von irgendeinem Wert.»

Die Autorin schildert auch sehr plastisch, was nach der «Ausgrabung» stattfand, nämlich ein typisches englisches Picknick in freier Natur (S. 94):

«Nachdem wir Pozzo S. Michele verlassen hatten, teilten wir uns in zwei Gruppen und setzten uns auf den Gipfel des Hügels, − unsere Vasen lagen neben uns −, um zu essen und zu trinken, wo viele tausend Jahre vor uns verschiedene gebratene Fleischsorten gegessen wurden und reichlich Wein floss.»

Anschließend kehrte man nach Rom zurück. Die Autorin kommt im Kapitel «Veji» zu der Ansicht, (S. 93–94) dass eine solche Art von unsystematischer «Ausgrabung» durch Antikenhändler und Sammler, die ihren Profit, oder einzelne schöne Objekte aber nicht die Wissenschaft im Auge haben, nicht der richtige Weg sein kann, eine alte Kultur zu entschlüsseln. Sie betont, dass Fundkomplexe auseinandergerissen werden und nicht mehr als zusammengehörig erkannt werden können. Das ist noch heute aktuell, wenn man an die zerstörerischen Raubgrabungen neuester Zeit denkt. Sie lobt jedoch die Personen, egal ob Händler oder Sammler, die ihre Funde und Fundorte in archäologischen Gesellschaften ausführlich publizieren.