Nutzung von Schrift könnte ein Zeichen für Ungleichheiten in einer Gesellschaft sein

Mehr als ein Jahrhundert lang wurde die Schriftsprache von Anthropologen und anderen Sozialwissenschaftlern als Definitionsmerkmal für gesellschaftliche Komplexität oder „Fortschritt“ angesehen (wobei dieser Begriff kolonialistische und rassistische Konnotationen trägt). In einer neuen Studie, die im Journal of Social Computing veröffentlicht wurde, haben Forscher jedoch herausgefunden, dass Gesellschaften keine Schriftsprache brauchen, um groß zu sein oder komplexe Regierungen zu haben. In einer systematischen, vergleichenden Untersuchung vorkolonialer mittelamerikanischer Gesellschaften stellten die Autoren der Studie fest, dass einige große Bevölkerungszentren über schriftliche Kommunikationssysteme verfügten, andere hingegen nicht. Gleichzeitig waren die Zentren, die über ausgefeiltere Rechen- und Schriftsysteme verfügten, tendenziell autokratischer und zeigten größere Ungleichheiten als die Zentren ohne diese Systeme.

Ausschnitt des Dresdener Codex, einer Maya-Handschrift des 13. Jahrhunderts. Das Bild zeigt den Schöpfergott Itzamná im Rachen des Himmelsdrachen, umgeben von Text in der Maya-Schrift.
Ausschnitt des Dresdener Codex, einer Maya-Handschrift des 13. Jahrhunderts. Das Bild zeigt den Schöpfergott Itzamná im Rachen des Himmelsdrachen, umgeben von Text in der Maya-Schrift. Grafik: Lacambalam, CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.

Warum entschieden sich Menschen für Schrift?

„Man ging davon aus, dass die Entwicklung der Schrift ein Merkmal von Zivilisationen oder großen Gesellschaften ist“, sagt Gary Feinman, MacArthur-Kurator für Anthropologie am Field Museum in Chicago und Erstautor der Studie. „Unsere Ergebnisse stellen diese seit langem bestehende Annahme in Frage und präzisieren sie zugleich, indem sie zeigen, dass die Beziehung zwischen dem Ausmaß sozialer Netzwerke und Rechensysteme auch berücksichtigen muss, wie die Menschen organisiert waren und welche Kommunikationsnetze sich daraus ergaben. Diese Beziehung ist nicht nur eine Frage der Effizienz; die Geschichte und die Art und Weise, wie die Menschen organisiert waren und kommunizierten, sind entscheidend.“ Die Untersuchungen führten zu der Feststellung, so Feinman, dass „im vorkolonialen Mittelamerika die allgemeine Ausarbeitung von Rechensystemen wie Schrift, Mathematik und Kalender nicht direkt mit der Größe der Gesellschaften korreliert. Sie wurden im Laufe der Zeit nicht unbedingt ausgefeilter oder effizienter.“

„Viele der vorherrschenden Paradigmen bei der Erforschung der menschlichen Vergangenheit haben eine westliche oder eurasische Ausrichtung, die einer genauen Prüfung von Daten aus anderen Teilen der Welt nicht standhält. Da wir in erster Linie Amerikanisten sind, wissen wir, dass bestimmte bevorzugte Modelle für die westliche Hemisphäre nicht funktionieren“, ergänzt Mitautor David Carballo von der Boston University. Einige der größten indigenen Reiche in Amerika hatten keine Schriftsprache, und „diese Fälle, die in einem eurasischen Kontext anomal erscheinen, veranlassten uns zu untersuchen, warum die Menschen schrieben und über welche Art von Dingen sie schrieben, anstatt eine Korrelation der Schriftnutzung mit anderen Formen sozialer Komplexität anzunehmen.“

Für die Studie verglichen Feinman und Carballo große Bevölkerungszentren im heutigen Mexiko und Mittelamerika von 1250 v. Chr. bis 1520 n. Chr. und untersuchten dabei Faktoren wie die Bevölkerungsgröße, die Größe des regierten Gebiets und die politische Organisation. Selbst in Gesellschaften ohne schriftliche Aufzeichnungen können Forscher die politische Struktur bestimmen, indem sie die archäologischen Überreste von Gebäuden und Einrichtungen wie Palästen untersuchen. Durch den Vergleich der Überreste von Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden, Siedlungsgrundrissen, Bestattungskontexten und Denkmälern können die Forscher Informationen darüber gewinnen, wie eine Gesellschaft regiert wurde und welche Ungleichheiten bei der Verteilung von Macht und Reichtum bestanden.

Feinman und Carballo verglichen diese Daten dann mit den von der Bevölkerung dieser Siedlungen verwendeten Rechensystemen (Schrift, Mathematik und Kalender). Die Beziehungen, die sie zwischen Schrift und gesellschaftlicher Komplexität fanden, waren, mit einem Wort, komplex. Es gab keine eindeutige Beziehung zwischen der Größe einer Gesellschaft und dem Vorhandensein von Schrift. Allerdings fanden die Wissenschaftler eine andere Verbindung zwischen Schrift und politischer Organisation. In Gesellschaften mit autokratischen Herrschern trat die Schrift häufiger auf als in Gesellschaften, in denen die Macht gleichmäßiger verteilt war.

Das mag zunächst widersinnig erscheinen, da man annehmen könnte, dass Gesellschaften mit Schrift besser in der Lage wären, über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren und mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, Wissen zu erwerben. Feinman und Carballo kamen jedoch zu anderen Ergebnissen. „Nehmen wir die ausgefeiltesten Schriftsysteme, wie die der klassischen Maya, so diente ein Großteil ihrer Schrift der Übermittlung von Nachrichten zwischen Menschen mit hohem Status“, erklärt Feinman. „Da es sich um ein komplexes Schriftsystem handelt, war die Anzahl der Personen, die es aufnehmen konnten, durch Reichtum oder Klasse beschränkt, und man übermittelte diesen Personen Informationen, die sowohl die eigene Führungsrolle legitimierten als auch die Beziehung zu anderen Eliten zum Ausdruck brachten.“ In diesem Fall war die Schrift also kein großer Gleichmacher, sondern eher das Gegenteil.

Die Untersuchungen zeigten auch, dass das Vorhandensein von Schriftsystemen nicht unbedingt auf Gesellschaften beschränkt war, in denen Menschen über weite Entfernungen hinweg miteinander kommunizieren mussten. „Ich glaube nicht, dass die Schrift in erster Linie dazu diente, Menschen über weite Entfernungen hinweg Nachrichten zu übermitteln. Die meisten geschriebenen Texte waren zu dieser Zeit nicht tragbar. Wenn man einer großen Anzahl von Menschen Informationen übermitteln wollte, kamen sie an einen Ort, an dem man irgendeine Art von Aktivität veranstaltete, die sich hauptsächlich auf mündliche Äußerungen stützte“, sagt Feinman.

Die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Ungleichheiten

In früheren Arbeiten hat Feinman (zusammen mit Kollegen) gezeigt, dass Gesellschaften mit großen Ungleichheiten in der Machtverteilung dazu neigen, weniger nachhaltig zu sein, und das scheint mit den Ergebnissen dieser neuen Studie übereinzustimmen. „In Mittelamerika ist es meiner Meinung nach ziemlich klar, dass die kollektiv organisierten Gemeinwesen mit weniger ‚komplexen‘ Schriftsystemen in der Regel langlebiger und nachhaltiger sind“, sagt er.

Ein weiteres zentrales Ergebnis der Studie ist, dass selbst Gesellschaften, die ein ausgeklügeltes Schriftsystem entwickelt haben (wie die klassischen Maya), nicht immer dabei geblieben sind. „Die Übernahme und Verbreitung von Technologien sind soziale Prozesse“, sagt Feinman. „Technologien, die ausgefeilter oder ‚effizienter‘ erscheinen, werden nicht immer angenommen oder beibehalten.“

„Die Studie ist in einem breiteren Kontext für das Verständnis der menschlichen Vergangenheit wichtig, da sie zeigt, dass die Entwicklung und Verbreitung von Technologien, auch im Bereich der Kommunikation und Datenverarbeitung, nicht immer linear verläuft“, sagt Carballo. „Sie werden von den Menschen in bestimmten sozialen und historischen Kontexten entwickelt und angenommen oder abgelehnt“.

Die Forscher wollen die Art und Weise, wie Archäologen nach sozialer Komplexität suchen und diese definieren, neu gestalten. „Ich denke, es ist wichtig, nicht nur das Vorhandensein oder die Ausführlichkeit von Kommunikationssystemen zu untersuchen, sondern auch, wer mit wem kommunizierte und welche Art von Botschaften gesendet wurden“, sagt Feinman. „Die Studie verdeutlicht, wie wichtig es ist, wie wir organisiert sind. Menschen zeigen eine wirklich einzigartige Kombination aus Kooperationsfähigkeit und Egoismus. Unsere Arbeit trägt dazu bei, die Komplexität dieses Gleichgewichts aufzuzeigen, das dem Auf und Ab der menschlichen Geschichte zugrunde liegt.“

Nach Pressemitteilung des Field Museum

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