Frühe Ureinwohner Amerikas waren „hochentwickelte“ Ingenieure

Die amerikanischen Ureinwohner, die vor mehr als 3.000 Jahren das als Poverty Point bekannte Gebiet im Norden Louisianas besiedelten, galten lange Zeit als einfache Jäger und Sammler. Doch neue archäologische Funde der Washington University in St. Louis zeichnen ein völlig anderes Bild von Amerikas erster Zivilisation. Weit entfernt von dem einfachen Leben, das manchmal in Anthropologiebüchern beschrieben wird, waren diese frühen Ureinwohner hochqualifizierte Ingenieure, die in der Lage waren, innerhalb weniger Monate – möglicherweise sogar Wochen – massive Lehmbauten zu errichten, die dem Test der Zeit standhielten, wie die Ergebnisse zeigen.

Hinweise auf Ingenieure?
Die Abbildung zeigt die wichtigsten Merkmale des Standorts Poverty Point im Norden Louisianas: Auf der rechten Seite befindet die Überschwemmungsebene des Mississippi. In Orange ist der Macon Ridge, der höher gelegene Teil des Gelände, eingezeichnet. Links vom Poverty Point sind sechs C-förmige, dicht hintereinander liegende Grate zu sehen. Das streifenförmige Muster südlich von Mound E am linken unteren Bildrand, das sich von dort bis in die untere Bildmitte zieht ist das Ergebnis landwirtschaftlicher Aktivitäten.
Die Abbildung zeigt die wichtigsten Merkmale des Standorts Poverty Point im Norden Louisianas. Auf der rechten Seite befindet die Überschwemmungsebene des Mississippi (in Grün). In Orange ist der Macon Ridge, der höher gelegene Teil des Geländes, auf dem sich der Standort befindet, eingefärbt. An der Stätte sind sechs C-förmige Grate zu sehen (1-6). Teile der Kämme sind durch historische und moderne Aktivitäten beschädigt worden. Das Muster südlich von Mound E ist das Ergebnis landwirtschaftlicher Aktivitäten. Es wird angenommen, dass viele der niedrigen Bereiche um die Stätte – die heller gelb sind – Orte sind, an denen Boden abgebaut wurde, um Hügel und Erhebungen zu schaffen (Foto: Washington University).

„Wir als Forschungsgemeinschaft – und die Bevölkerung als Ganzes – haben die Eingeborenen und ihre Fähigkeit, diese Arbeit so schnell und auf diese Weise zu erledigen, unterschätzt“, sagte Tristram R. „T.R.“ Kidder, Hauptautor und Edward S. and Tedi Macias Professor of Anthropology in Arts & Sciences.

„Eines der bemerkenswertesten Dinge ist, dass diese Erdwerke mehr als 3.000 Jahre lang ohne Versagen oder größere Erosion überstanden haben. Im Vergleich dazu versagen moderne Brücken, Autobahnen und Dämme mit erstaunlicher Regelmäßigkeit, denn es ist komplizierter, etwas aus Erde zu bauen, als man denkt. Sie waren wirklich unglaubliche Ingenieure mit sehr ausgefeilten technischen Kenntnissen“.

Die Ergebnisse wurden am 1. September in der Zeitschrift Southeastern Archaeology veröffentlicht. Kai Su und Seth B. Grooms von der Washington University sowie die Absolventen Edward R. Henry (Colorado State) und Kelly Ervin (USDA Natural Resources Conservation Service) trugen ebenfalls zu dem Artikel bei.

Über Poverty Point

Die Welterbestätte Poverty Point besteht aus einem massiven, 72 Fuß hohen Erdhügel und konzentrischen Halbkreisgraten. Die Strukturen wurden von Jägern und Sammlern vor etwa 3.400 Jahren aus fast 2 Millionen m3 Erde errichtet. Erstaunlicherweise geschah dies ohne den Luxus moderner Werkzeuge, domestizierter Tiere oder gar Radkarren.

Kidder zufolge war der Ort wahrscheinlich eine wichtige religiöse Stätte, zu der die amerikanischen Ureinwohner pilgerten, ähnlich wie nach Mekka. Diese wurde vor 3.000 bis 3.200 Jahren abrupt aufgegeben – wahrscheinlich aufgrund der dokumentierten Überschwemmungen im Mississippi-Tal und des Klimawandels.

Die Hügel am Poverty Point enthalten an den Rändern und im Inneren große Mengen an Artefakten, was darauf hindeutet, dass dort Menschen lebten. Kidder und sein Team untersuchten und bewerteten eine Fundstelle auf Ridge West 3 der Poverty Point Site neu, die ursprünglich 1991 von dem renommierten Archäologen Jon Gibson ausgegraben worden war.

Fotografie der sechs C-förmigen Grate, an deren Bau wohl frühe Ingenieure beteiligt gewesen sind. Im heutigen Gelände, das zum Teil aus Sumpf besteht, sind die Grate kaum mehr zu erkennen. Auf dem Foto liegt Grat R1 im Hintergrund, Grat R6 im Vordergrund und dazwischen befinden sich die restlichen Grate. Zwischen den einzelnen Graten befinden sich schmale Feuchtgebiete, an deren Ufern Bäume wachsen.
Am linken oberen Bildrand befindet sich noch einmal eine Grafik.
Jeder Grat ist mit einer Nummer gekennzeichnet – 1 ist der innere Grat und 6 der äußere Grat. Die Forscher glauben, dass ein Teil der für den Bau der Grate verwendeten Erde aus den Feuchtgebieten zwischen den Graten stammt (Foto: Washington University).

Durch den Einsatz moderner Forschungsmethoden, einschließlich der Radiokohlenstoffdatierung, der mikroskopischen Analyse und magnetischer Messungen von Böden, liefern die Forschungen schlüssige Beweise dafür, dass die Erdwerke schnell errichtet wurden. Im Wesentlichen gibt es keine Hinweise auf Grenzen oder Verwitterungserscheinungen zwischen den verschiedenen Ebenen, die bei einer auch nur kurzen Baupause aufgetreten wären. Kidder geht davon aus, dass der Bau in Schichten vollendet wurde, d. h. in Sedimentschichten, die aufgetragen wurden, um die Kammhöhe und die linearen Abmessungen zu vergrößern, bevor eine weitere Schicht aufgetragen wurde, um die Grundfläche vertikal und horizontal zu erweitern.

Warum ist das wichtig? Kidder zufolge stellen die Ergebnisse frühere Annahmen darüber in Frage, wie sich vormoderne Jäger und Sammler verhielten. Der Bau der riesigen Hügel und Erhebungen am Poverty Point hätte eine große Zahl von Arbeitskräften erfordert, die gut organisiert waren und für deren Ausführung eine Führungspersönlichkeit erforderlich gewesen wäre. Es wird angenommen, dass die Jäger und Sammler die Politik mieden.

„Die Geschwindigkeit der Ausgrabung und des Baus sowie die Menge der bewegten Erde zeigen, dass die Eingeborenen an diesem Ort gemeinsam arbeiteten. Das ist an sich schon bemerkenswert, weil Jäger und Sammler zu solchen Aktivitäten nicht in der Lage sein sollten“, so Kidder.

Noch beeindruckender als die Schnelligkeit, mit der die Menschen die Lehmbauten errichteten, ist die Tatsache, dass sie noch intakt sind. Aufgrund der Nähe zum Golf von Mexiko fallen in diesem Gebiet immense Regenmengen, die die Erdbauten besonders anfällig für Erosion machen. Die mikroskopische Analyse der Böden zeigt, dass die amerikanischen Ureinwohner verschiedene Bodenarten – Lehm, Schluff und Sand – nach einem genau berechneten Rezept mischten, um die Strukturen zu verstärken.

„Ähnlich wie der römische Beton oder die gestampfte Erde in China entdeckten die amerikanischen Ureinwohner raffinierte Möglichkeiten, verschiedene Materialien so zu mischen, dass sie praktisch unzerstörbar wurden, obwohl sie nicht verdichtet waren. Da steckt eine Magie drin, die unsere modernen Ingenieure noch nicht herausgefunden haben“, so Kidder.

Nach einer Pressemeldung der Washington University in St. Louis

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