Dr. Winfried Rathke zum 89. Geburtstag

von Angelika Dierichs

Nestor der Augenheilkunde, Kenner antiker Welten, Schöpfer geistreich-frecher Werke. So charakterisiere ich den Augenarzt, Tropenmediziner, Autor, Künstler. Mehr als 30 Jahre praktizierte er als Ophtalmologe in Rüdesheim, bildete in Nigeria aus, unterrichtete an den Universitäten Tübingen und Freiburg. 44 Jahre leitete er den Rheingauer Kunstverein. „Rheingauer des Jahres“ hieß er 2016. Seine Freizeit gehörte kultureller Betätigung. Er schrieb und schreibt bis heute (aktuell 29 Bücher). Hätte es AW schon zu R.s Jugendzeit gegeben, wäre dort zumindest ein Beitrag über seine erste Reise erschienen. Nach dem Sommersemester 1952 (Universität Göttingen) begann der Medizinstudent eine Tramp-Tour nach Italien, die ihn prägte wie eine unvergessene Jugendliebe. Spaghetti blieben sein Leibgericht. Rückblickend erzählte R. in „Unterwegs“ (2021) von den Erlebnissen. Er verfasste sie ausnahmsweise in Prosa, bettete kunsthistorisch fundierte Informationen ein in seinen klug-witzigen Stil, präsentierte eine brisante Mischung von Pimärerlebnis und Nachbereitung aus kontinuierlich Hinzugelerntem. Einiges von dem, was R. 1952 – fast alles zu Fuß – erkundete und in „Unterwegs“ (2021) festhielt, widerspiegelt sein „Rom und Italien mal ganz anders“ (2005) mit Gedichten aus amüsant-geistvollen Reimen, die für alle seine Publikationen typisch sind und bei der Leserschaft eine gewisse Vertrautheit mit Mythologie, Literatur und Sehenswürdigkeiten Italiens voraussetzen. Mein Beitrag fasst 2021 Erzähltes zusammen und zitiert wenig Gereimtes aus 2005.

Juli 1952 war, neben Ausweisen und 100 Mark, nur das Allernötigste im Rucksack. Erfolgreich initiierte ein Pappschild mit der Aufschrift „Studente Sicilia“ R.s Autostop in Hannover, wo seine Familie wohnte. Der Sprache seines Traumziels noch unkundig, verständigte er sich südlich vom Brenner mit Schullatein, kombiniert mit Vokabelnotizen zum Italienischen. Aufgeschlossen genoss er Begegnungen mit liebenswürdigen, redefreundlichen, gestenreichen, gesangserfüllten, hilfsbereiten Italienern. Venedig wurde erreicht. Eine Gondel, unter der Seufzerbrücke hindurchgleitend, verwunderte R., weil der Gondoliere schwieg, während die älteren deutschen Insassen ´Am Brunnen vor dem Tore´ sangen. Dessen ungeachtet begann R.s Interesse für Italiens Kunst- und Kulturschätze in Venedig. Dogenpalast, Markusplatz, Maler und mehr. Humorig liest sich das 2005 ausschnitthaft so: Venezia colorito. / … Nach Tizian erschien Veronese / Der malte sehr viel amouröse / Und fleischige Leiber … / Dann hauste da noch Tintoretto, / auch der hatte Kunst stets in petto. / Man bezahlte ihm poco / in der Schule San Rocco … / Und Tiepolo ging es noch schlechter, / obgleich er ein Künstler, ein echter … An der Università degli Stranieri in Perugia verbesserte R. seine Italienischkenntnisse.

Die Überquerung des Apennin machte Mühe. Florenz lockte. Eine Woche blieb er, schloss sich unauffällig geführten Reisegruppen an, speicherte Wissenswertes und notierte Namen von Künstlern, deren Werke er damals oder später aufsuchen wollte. Giotto, Bruneleschi, Ghiberti, Verocchio, Donatello, Cellini, Michelangelo und selbstverständlich Botticelli. Des letzteren Venus in den Uffizien faszinierte ihn, denn hinter ihrer Schönheit verblasste, was er aus Ovids Metamorphosen kannte. Launig reimte er später: In Florenz, da lauern Uffizien, / auf Wartende mit Exerzitien. / Wir standen zu lange / in einer Schlange. / Drum reisten wir ab nach Galizien. Einst allein vor Cellinis Perseus, Michelangelos David und dessen Mediceer-Gräbern, zeigte er all das später seinen Gruppen. Perfekt kunsthistorisch unterweisend, schob er munter machende Verse ein. Die Medici waren ja Streber, / sie kauften sich Marmor für Gräber. Michelangelo haute, / weil er das sich traute / den Marmor zurecht wie ein Eber. (Florentiner Limericks, 2005). Tarquinia mit etruskischen Grabkammern und Subiaco, Rückzugsort des Hl. Benedikt, waren R.s Stationen, bevor er Rom erreichte. Skeptisch übernachtete er auf dem Forum Romanum inmitten obdachloser Landstreicher. Entspannt und körpergepflegt nahm er das Gratis-Mittagessen in einem Nonnenkloster in der Via del Colosseo ein. Die Laokoongruppe im Vatikan beindruckte. Kommentare zu diesem Bildwerk durchsetzte R. in „Unterwegs“ mit Anspielungen auf Gegenwartsgeschehen. Das ist eines seiner bitter-süßen Stilmittel, um die Leserschaft schmunzeln zu lassen. R. schrieb: Die Mythosversion zum Troianischen Priester Laokoon, der Frauen im Tempel bedrängte, „löste bei den Göttern eine Mißbrauchsdebatte aus“. Und Aeneas, der nach dem Sieg der Griechen über Troia, seine brennende Stadt verließ und später Italien erreichte, nannte er einen „Mittelmeer-Flüchtling“.

Von Rom trampte R. nach Neapel. Launig fasste er seine ersten Eindrücke zusammen. Bis heute verkünden Neapeltouristen Ähnliches, aber umschreiben einen Diebstahl weniger witzig als R., der die „hohe Kunst der Entnahme“ beobachtete. Im Nationalmuseum traf er einen jener Museumswärter, die gegen ein Trinkgeld den Blick auf weggesperrte antike Erotica aus Pompeji versprachen. Ob R. das Angebot, „unauffällig eine Spezialität des Hauses“ zu sehen, damals wirklich nutzte, bleibt unbeantwortet, aber er spricht vom antiken „Kamasutra aus Pompeji“, das er zweifellos in reiferen Jahren studierte, als die Malereien zugänglich wurden. Nach der Neapel-Woche „tuckerte“ R. per Postschiff Richtung Sizilien. Gewarnt, dass es dort nichts gäbe, versorgte er sich mit Brot, Käse, Olivenöl. Eine Kabine war zu teuer, also schlief er gratis an Deck. Vor Stromboli wurde der Anker geworfen. Auf einem Boot, gelangten Fracht und R. an Land, wo die „absurdesten Wochen“ seines Lebens folgten. Der französische Philosophiestudent Jean Claude führte ihn zu einem verlassenen Haus und erklärte, dort könne R. unbesorgt wohnen, da die Eigentümer infolge eines Vulkanausbruchs nach Amerika auswanderten. R. hatte eine Bleibe. Der verwilderte Garten bot winzige Tomaten und reife Opuntienfrüchte, deren Stacheln er mit einer Gabel entfernte, um den süßen Inhalt zu schlürfen. Bescheiden war die Sanitär-Anlage in Form eines „von Holzwürmern zerfressenen Donnerbalkens“. Ein Brunnen fehlte, aber Wasser schenkte die Zisterne bei Nachbar Jean Claude. Die beiden jungen Männer lasen zusammen Balzac und Dumas. Man bestieg den Stromboli-Vulkan, bestaunte abends die 10-minütig wiederkehrenden Ausbrüche, schlief in aus feinem schwarzen Sand gebuddelter Mulde, begann den Abstieg bei Sonnenaufgang. Nach zwei Wochen auf Stromboli schaukelte R. mit einem Fischerboot, gepeinigt von der ersten Seekrankheit seines Lebens, über Lipari nach Vulcano, wo er zukünftigen Kurbetrieb ahnend, Einheimische beobachtete, die sich mit heißem Schlamm zur Linderung von Gelenkrheuma einrieben.

Sizilien war angesagt. Mühsam-einfallsreich kam R. voran bis Palermo, wo er in der Jugendherberge unter deutscher Leitung ein wenig Heimat spürte. Außer Kapuziner-Katakomben und Grab Friedrichs II., gab es für den umtriebigen Medizinstudenten viel zu entdecken, bevor er sich auf den Weg machte zu Resten griechischer Architektur. Im Innern der Tempelruine von Segesta rollte R. sich abends in seine Decke. Gesellschaft eines Schäfers plus Herde und Einladung zu Brot, Käse, Wein bei Vollmond, das bedeutete ihm „Archaik pur“. In Selinunt, wo das aktuell zu besichtigende Tempelareal noch unter Wildwuchs ruhte, wohnten Mauer-Eidechsen. In Agrigent bewunderte R. den sog. Concordia-Tempel samt seiner Ziegenpopulation. Auch der Strand lockte. Beim Geburtshaus Luigi Pirandellos, das heute ein Museum ist, übernachtete R. wenig komfortabel, wie üblich. Unangenehmer Scirocco und spärliche Ernährung schwächten ihn. Verbesserung seines Zustandes begann im Bus nach Syrakus, den er stoppte. Wohin er wolle, fragte man den Fremden, der frech-schlagfertig antwortete: „Madonna delle lagrime“. Aus der Zeitung wusste er von einer kleine Porzellan-Madonna, die im Haus eines Kommunisten Tränen vergoss, was Wunderheilungen vor ihrem Bild bewirkte. R. kam ins Gespräch mit den Reisenden; outete sich „Sono tedesco“; das griff. „Ein Deutscher will zur Madonna!“ Man versorgte den Jüngling mit Brot, Käse, Feigen, Mortadella, Wein. Alte Frauen umhalsten ihn. Gegen Mitternacht in Syracus, drängte man zur Piazza, wo die Madonna mittlerweile erfolgreich gesund machte. R. verließ die Pilger, besuchte fast alles in Syrakus, was aktuelle Studienreisen anbieten. Eine Absperrung übersteigend, gelang ihm eine Nachtruhe im antiken Theater.

Zufälle halfen, trotz desolater Finanzlage, voranzukommen. Gegen Schlafplatz im Heu und Verpflegung ersetzte er einen erkrankten Bauern während der Erntezeit. Laufbursche und Fensterputzer bei einem Lastwagenfahrer sicherten ihm die Ankunft in Messina, wo er sich auf die Fähre zum Festland nach Reggio Calabria schmuggelte. Kälte und Regen kündigten den Herbst an. Höchst unbequeme Übernachtung in ausgebranntem Lastwagen, Genuss von Tomaten bis zur Übelkeit, endlich nahte Paestum mit seinen griechischen Tempelresten. Angesagt waren Besichtigung mit anschließendem Mittagsschlaf im Hera-Heiligtum und Betrachtung griechischer Grabfresken. Zwei Tage gehörten Pompeji. R. musste weiter, schleppte Kisten für einen LKW-Fahrer, was ihm Gratistransport, Einladung ins Ristorante und Fußballspiel-Besuch bescherte. Endlich erreichte er Lerici. Im Castello betrieb Madi, einst Partisanenkämpferin gegen die Deutschen im 2. Weltkrieg, eine Jugendherberge. Zwei Wochen half R. intensiv, aber erholte sich trotzdem von allen Strapazen. Jahre später besuchte er Madi in einem Altenheim. Sie erkannte ihn nicht, aber als er nach ihrer Taube Paolina fragte, umarmte sie ihn. Stressig und kalt waren die letzten Etappen bis Hannover. Sein Vater erkannte den Vagabunden erst nach dem zweiten Klingeln und befahl „Ab in die Badewanne und dann zum Barbier.“ Der Friseur war Sizilianer. Man hatte Gesprächsstoff.

Den Ausführungen ist zwingend etwas hinzuzufügen. Der „Jubilar“ vermehrte seine Publikationen. Zu den 29 Büchern gesellte sich vor wenigen Tagen Buch Nr. 30:

Winfried Rathke, Kluge Köpfe

Adresse der Autorin

Dr. phil. Angelika Dierichs, M.A.
Am Agnesstift 11
D-53117 Bonn
Tel. 0228 – 96778722
angelika.dierichs@t-online.de

www.angelika-dierichs.de

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