Eine bronzezeitliche Landkarte? Die Tafel von Saint-Bélec

Forscher des Inrap, der Universität Bournemouth, von dem CNRS und der Université de Bretagne Occidentale (UBO) haben die älteste Reliefkarte Europas entdeckt, die aus der frühen Bronzezeit (2150–1600 v. Chr.) stammt: die gravierte Tafel von Saint-Bélec (Leuhan, Finistère in der Bretagne). Im Jahr 1900 von Paul du Chatellier in einem Grabhügel entdeckt und ein Jahrhundert lang vergessen, wurde diese verzierte Platte vor kurzem im Musée d’Archéologie nationale (MAN) wiederentdeckt und war Gegenstand neuer Untersuchungen, die es erlauben, sie als die älteste bekannte kartographische Darstellung eines Territoriums in Europa zu interpretieren – vermutlich ein Symbol der politischen Macht eines Herrschers der frühen Bronzezeit. Die aktuelle Studie erscheint im Bulletin de la Société préhistorique française.

Gesamtansicht der Tafel von Saint-Bélec (© D. Gliksman, Inrap).

Die zerbrochene Platte wurde gegen Ende der frühen Bronzezeit (ca. 1900–1640 v. Chr.) in der Kammer des Tumulus von Saint-Bélec 1 wiederverwendet. Die Schieferplatte bildete dann eine der Wände eines Grabes. Seine eingravierte Fläche war zum Inneren des Grabes hin ausgerichtet, seine Enden waren jedoch verdeckt. Im August 1900 wurde die Platte in das Château de Kernuz, das Haus und Privatmuseum von Paul du Chatellier (Pont-L’Abbé, Finistère), gebracht. Das Musée d’Archéologie nationale (MAN) in Saint-Germain-en-Laye erwarb dessen bedeutende Sammlung im Jahr 1924. Die Platte von Saint-Bélec wurde bis in die 1990er Jahre in einer Nische des Schlossgrabens aufbewahrt. Sie wurde schließlich im Jahr 2014 in einem Keller des Schlosses «wiedergefunden». Ab 2017 führten die Forscher photogrammetrische Aufnahmen und hochauflösende 3D-Vermessungskampagnen durch, um die Plattenoberfläche zu erfassen und die Morphologie, Technologie und relative Chronologie der Gravuren zu analysieren.

Gesamtansicht der Platte nach der Restaurierung im Jahr 1901 (© P. du Chatellier, Archives départementales du Finistère, Quimper, Serien 100J1301 und 100J1302).

Die Platte von Saint-Bélec besteht aus grau-blauem Schiefer lokaler Herkunft und ist 2,20 m lang, 1,53 m breit und 0,16 m dick. In der Mitte befindet sich ein trapezförmiges Motiv mit konvexen Kanten, das tief eingraviert ist und über das zwei Achsen laufen, eine horizontale, die die Platte von einem Ende zum anderen durchquert, und eine vertikale, die wegen der Brüche schwieriger zu erkennen ist. Die grafische Komposition ist also in vier Viertel unterteilt, die ungleichmäßig verteilte Zeichen enthalten (runde und ovale Eintiefungen, gerade oder gebogene Linien, Quadrate, Kreise, Ovale und birnenförmige Figuren), die eine Reihe von komplexen Motiven bilden, die durch ein Netz von Linien verbunden sind. Eine der Besonderheiten der Platte ist die Verwendung von Flachreliefs. Es wurden verschiedene Techniken verwendet.

Das Vorhandensein von wiederholten Motiven, die durch Linien verbunden sind, gibt dieser Komposition das Aussehen einer Landkarte. Eine Karte ist „eine Darstellung in verkleinertem Maßstab der gesamten oder teilweisen Oberfläche der Erdkugel“ (Petit Robert). Die Platte von Saint-Bélec weist die drei überzeugendsten Elemente einer prähistorischen kartographischen Darstellung auf: eine homogene Komposition mit in Technik und Stil identischen Gravuren, eine Wiederholung von Motiven und eine räumliche Beziehung zwischen diesen Motiven (Liniennetz). Um ihre Hypothese zu bestätigen, verglichen die Forscher sie mit anderen ähnlichen Darstellungen aus der europäischen Vorgeschichte und der globalen Ethnographie (Tuaregs, Papuas, australische Aborigines, etc.).

Tatsächlich eine Karte?

Kann die Platte von Saint-Bélec ihre Umgebung zwischen den Montagnes Noires und dem Odet-Tal, den Coadri-Hügeln und dem Landudal-Massiv darstellen? Eine Untersuchung der gravierten Oberfläche zeigt, dass die Topographie der Platte bewusst verändert wurde, um das Odet-Tal darzustellen, während mehrere Linien das hydrographische Netz zu repräsentieren scheinen. Um die Übereinstimmung zwischen den Gravuren und den Landschaftselementen zu prüfen, wurden mehrere Serien von statistischen Analysen von Formen und Netzen durchgeführt. Auf der Grundlage dieser sehr überzeugenden Ergebnisse wurde eine Georeferenzierung der Platte durchgeführt. Diese Arbeit zeigt, dass das auf der Platte dargestellte Territorium einem etwa 30 km langen und 21 km breiten Gebiet entspricht, das entlang einer Ostnordost-Westsüdwest-Achse ausgerichtet ist, die dem Verlauf des Odet entspricht. Das zentrale Motiv, das als Symbol einer Einfriedung interpretiert wird, lässt die Hypothese zu, dass eine bronzezeitliche Gemeinschaft an den Grenzen von drei Quellen (dem Odet, der Isole und dem Stêr Laër) existierte.

Da es sich wahrscheinlich um eine «mentale Karte» handelt, können einige der dargestellten Elemente überdimensioniert sein, und ihre Positionen sind nicht unbedingt proportional zum Abstand, der sie voneinander trennt. Schließlich sollte die Kartographie dieses Territoriums mit dem sozio-historischen Kontext der sogenannten „armorikanischen Tumulus“-Kultur in Beziehung gesetzt werden, die eine starke soziale Hierarchie und eine zweifellos straffe Kontrolle der Wirtschaft zeigt. Die berühmten „Fürsten“-Gräber dieser Zeit sind regelmäßig im Raum verteilt, durch ein Netz von Straßen miteinander verbunden und erscheinen als Zentren von Territorien. Zeitgleich mit der berühmten Himmelsscheibe von Nebra zeigt die Platte von Saint-Bélec das kartographische Wissen prähistorischer Gesellschaften. Wenn die Platte von Saint-Bélec das Territorium einer hochhierarchischen politischen Einheit repräsentiert, die ein Gebiet in der frühen Bronzezeit kontrollierte, könnte ihr Zerbrechen die Bedeutung einer Entsakralisierung haben. Ein von einer ikonoklastischen Geste begleiteter Bestattungsakt könnte also das Ende oder die Ablehnung dieser Eliten markieren, die in der Frühbronzezeit über mehrere Jahrhunderte ihre Macht über die Gesellschaft ausgeübt haben werden.

Angaben zum Artikel 

Nicolas C., Pailler Y., Stéphan P., Pierson J., Aubry L., Le Gall B., Lacombe V., Rolet J. (2021) – La carte et le territoire : la dalle gravée du Bronze ancien de Saint-Bélec (Leuhan, Finistère), Bulletin de la Société préhistorique française, 118, 1, S. 99-146.

Nach einer Pressemeldung des INRAP.


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