Die Wassermühlen von Barbegal

Die Hydraulik der weltweit ersten Industrieanlage: Ellenbogenförmige Wasserrinne als besondere Anpassung für den Mühlenkomplex von Barbegal und Zeichen des Einfallsreichtums römischer Ingenieure

Die Wassermühlen von Barbegal in Südfrankreich sind ein einmaliger Komplex aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Die
Konstruktion aus 16 Wasserrädern gilt, soweit bisher bekannt, als der erste Versuch in Europa, einen
Maschinenkomplex in industriellem Maßstab zu errichten. Die Anlage wurde erstellt, als sich das Römische Reich auf
dem Höhepunkt seiner Macht befand. Aber über die technologischen Fortschritte, besonders auf dem Gebiet der
Hydraulik, und die Verbreitung der Kenntnisse zu dieser Zeit ist wenig bekannt. Ein Team von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler unter der Leitung von Prof. Dr. Cees Passchier von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat
nun neue Erkenntnisse über die Konstruktion und das Prinzip der Wasserzufuhr der Mühlen von Barbegal erlangt. Die
Forschungsergebnisse wurden in der renommierten Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.

Ansicht der Anlage von Barbegal im Jahr 2018 (Foto/©: Robert Fabre, Saint Etienne du Grès, Frankreich).

Mühlenkomplex besteht aus insgesamt 16 Wasserrädern in zwei parallelen Reihen

Wassermühlen gehörten zu den ersten Energielieferanten, die nicht auf die Muskelkraft von Menschen oder Tieren
angewiesen waren. Im Römischen Reich dienten sie zur Herstellung von Mehl und dem Sägen von Holz und Stein. Die
Wassermühlen von Barbegal – als einer der ersten Industriekomplexe in der europäischen Geschichte – sind ein
herausragendes Beispiel für die damalige Entwicklung. Der Mühlenkomplex bestand aus 16 Wasserrädern in einer
parallelen Anordnung von jeweils acht Rädern, die durch zentrale Gebäude getrennt waren und von einem Aquädukt
gespeist wurden. Die oberen Teile der Anlage wurden zerstört und von den Holzkonstruktionen sind keine Spuren
erhalten, weshalb die Art der Mühlräder und ihre Funktionsweise lange ein Rätsel blieben.
Erhalten blieben jedoch Kalkablagerungen, die sich durch das Wasser auf den Holzbauteilen gebildet hatten. Sie
wurden im archäologischen Museum in Arles eingelagert und erst vor kurzer Zeit im Detail untersucht. Dabei fanden die
Forschenden eine Art Abdruck einer ungewöhnlichen, ellenbogenförmigen Wasserrinne, die Teil der Konstruktion
gewesen sein muss. „Wir haben Messungen der Wasserbecken mit hydraulischen Berechnungen kombiniert und
konnten so zeigen, dass die Wasserrinne, zu der dieses ellenbogenförmige Stück gehörte, sehr wahrscheinlich die
Mühlenräder in den unteren Becken des Komplexes mit Wasser versorgte“, sagt Cees Passchier. „Die Form dieser
Wasserrinne war von anderen Wassermühlen nicht bekannt, weder aus römischer noch aus jüngerer Zeit. Wir haben
daher gerätselt, warum die Rinne so konstruiert wurde und wozu sie diente.“

Kalkablagerung von der Seitenwand der ellenbogenförmigen Rinne, die sich an der Innenseite auf dem Holz gebildet haben. Die vertikalen Streifen sind Abdrücke von Sägespuren auf dem Holz (Foto/©: Cees Passchier).

Ellenbogenförmige Wasserrinne als einzigartige Adaption für die Mühlen von Barbegal

Auf den ersten Blick erschien dem Team eine solche Wasserrinne unnötig und sogar nachtteilig, weil dadurch die Höhe
verkürzt wird, aus der das Wasser auf das Mühlrad fällt. „Unsere Berechnungen zeigen jedoch, dass die seltsam
geformte Rinne eine einzigartige Anpassung für die Mühlen von Barbegal darstellt“, erklärt Passchier. Die Verteilung
der Kalkablagerungen in der ellenbogenförmigen Rinne zeigt, dass sie entgegen der Stromrichtung leicht nach hinten
geneigt war. Dadurch wurde eine maximale Fließrate im ersten, steilen Teil der Rinne erzeugt und gleichzeitig erhielt
der Wasserstrahl auf dem Mühlrad den richtigen Winkel und die richtige Geschwindigkeit. In der komplizierten
Mühlenanlage mit den kleinen Wasserbecken war diese einzigartige Lösung effizienter als die Benutzung einer
traditionellen, geraden Wasserrinne. „Das zeigt uns den Einfallsreichtum der römischen Konstrukteure, die den
Komplex gebaut haben“, sagt Passchier.

Skizze der Anlage mit Darstellung der unteren drei Wasserbecken mit Mühlrädern und Wasserrinnen: Die unteren Becken besaßen wahrscheinlich ellenbogenförmige Rinnen (Abb./©: Cees Passchier).

„Eine weitere Entdeckung war, dass das Holz der Wasserrinne wahrscheinlich selbst mit einer mechanischen, von
Wasser angetriebene Säge gesägt wurde. Dies stellt möglicherweise die früheste Anweisung für eine mechanische
Holzsäge dar – wiederum ein Beweis für eine industrielle Tätigkeit in der Antike.“ Passchier weist darauf hin, dass die
Forschungsarbeiten von einem multidisziplinären Team aus Expertinnen und Experten der Geologie, Geochemie,
Hydraulik, Dendrochronologie und Archäologie durchgeführt wurden.
Die Kalkablagerungen, die sich auf den antiken Wasserbauten bildeten, sind für die Forschenden ein wichtiges
Werkzeug für archäologische Rekonstruktionen. Bereits in einem früheren Projekt konnte das Team um Cees Passchier
zeigen, dass das Mehl der Barbegal-Mühlen vermutlich der Herstellung von Schiffszwieback diente. „Die
Kalkablagerungen liefern uns extrem spannende Einsichten in die Fähigkeiten der römischen Techniker zu einer Zeit, die
als direkter Vorläufer unserer Zivilisation zu sehen ist“, fügt Passchier an. Der Wissenschaftler war von 1993 bis 2019
Professor für Tektonophysik und Strukturgeologie am Institut für Geowissenschaften der JGU und ist seit 2019
Seniorforschungsprofessor in Geoarchäologie in Mainz.

| Nach einer Pressemeldung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wissenschaftlicher Ansprechpartner: Prof. em. Dr. Cees Willem Passchier

Originalpublikation:
Cees W. Passchier et al.
Reconstructing the hydraulics of the world’s first industrial complex, the second century CE Barbegal watermills, France
Scientific Reports, 21. Oktober 2020
DOI: 10.1038/s41598-020-74900-5
https://www.nature.com/articles/s41598-020-74900-5

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