Der Staat im alten Ägypten im Alten bis Neuen Reich

Wie funktionierte der Staat im alten Ägypten? Cover zu "The State in Ancient Egypt" von Juan Carlos Moreno García.

Die Herausbildung früher Staaten gilt als ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte. Erstmals entstanden Formen der politischen Zentralisierung, extremer sozialer Hierarchien und einer Schriftbürokratie, die neue Logiken des Verwaltens ermöglichte. Gleichwohl liegen die Dinge etwas komplizierter, sobald man sich im Angesicht höchst fragmentierter Quellenbestände darüber verständigen möchte, wie frühe Staaten tatsächlich funktionierten. Juan Carlos Moreno García forscht seit gut zwei Jahrzehnten zu den Themen Staat und Gesellschaft im alten Ägypten. Sein Buch The State in Ancient Egypt fasst seine bisherigen Forschungen auf überschaubaren 200 Seiten in gut verständlicher Weise zusammen. Geographisch ist es auf das Kernland Ägyptens, von Assuan bis zum Mittelmeer, chronologisch auf die klassische Pharaonenzeit, vom Alten bis zum Neuen Reich, ca. 2700 bis 1070 v. Chr. fokussiert, jedoch stets mit einem kulturvergleichenden Blick auf größere Raum- und Zeithorizonte.

Das Buch meistert den lohnenswerten Spagat zwischen Ägyptologie und kultur- und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Moreno García setzt neo-evolutionistischen und älteren Auffassungen vom altägyptischen Staat als eine straff durchorganisierte Bürokratie despotischen Zuschnitts einen Staat entgegen, der mehr als ein Arrangement von Institutionen sei. Vielmehr sei der altägyptische „Abgabenstaat“ (tributary state) das Produkt der Interessen und Strategien einzelner Mitglieder und das Ergebnis ständiger Prozesse des politischen Aushandelns unter verschiedenen Gruppen, insbesondere den Eliten. Damit plädiert Moreno-García im Gefolge kulturvergleichender Diskussionen früher komplexer Gesellschaften (J. Baines, B. Trigger, N. Yoffee), der Soziologie (B. Jessop), der Politikwissenschaft (A. Anievas, K. Niancıoğlu) und der Geschichtswissenschaft (J. Banaji, J. Haldon) für ein dynamisches Modell, das Krisen, die Fragilität zentraler Gewalt und informelle Machtverhältnisse für reguläre Begleiterscheinungen früher Staaten hält.

Die Einleitungs- und Schlusskapitel sind theoretischen Reflexionen gewidmet. Kapitel 2 Integrating Spaces stellt den Wandel zentraler Institutionen im Hinterland dar. Tempel stiegen erst gegen 1550 v. Chr. zu mächtigen Pfeilern in der Provinz auf. In Kapitel 3 Managing Resources bespricht der Autor die praktischen Schwierigkeiten von Besteuerung und des Verausgabens staatlicher Mittel. Steuern wurden möglicherweise eher ad hoc eingetrieben. Kapitel 4 Co-opting Leaders rückt die Strategien der Zentralgewalt zur Integration lokaler Eliten in den Mittelpunkt. In Kapitel 5 Hidden Forces? Invisible Actors and Their Impact on the State hebt der Autor die Rolle lokaler Eliten hervor, die meist unterhalb des Niveaus verschrifteter Verwaltungsprozesse operierten, etwa reiche Bauern und Dorfälteste, jedoch als wichtige Scharniere zwischen Zentrum und lokalen Gemeinschaften fungierten. In Kapitel 6 Creating Authority zeigt der Autor die diversen Interessenslagen lokaler Patrone auf, versteht letztere aber nicht als Gegner der bestehenden politischen Ordnung. Kapitel 7 Building Statehood Through Culture beschreibt wichtige Aspekte der königlichen Ideologie, wie sie sich in Monumenten, einem spezifischen visuellen Code und religiösen Prinzipien widerspiegele, sowie die Mechanismen der Ideologie, regionale Unterschiede zu verschleiern. Kapitel 8 Sociopolitical Change and the State fasst die Geschichte des altägyptischen Staates vom späten 3. bis zum Ende des 2. Jahrtausends zusammen. Externe Faktoren, z.B. Wanderungsbewegungen, werden für die Erklärung einer sich fragmentierenden Zentralgewalt besonders hervorgehoben.

Der Autor nimmt eine sozialgeschichtliche Perspektive auf den Staat als Gesamtsystem ein und hebt richtig die Diversität regionaler Dispositionen innerhalb Ägyptens hervor. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach der Integration zentraler und lokaler Dynamiken mit einem Schwerpunkt auf der Provinzverwaltung. Der Autor stützt sich im Kern auf Verwaltungsdokumente, königliche Repräsentationsquellen und biographische Inschriften von Hof- und Provinzeliten. Der Zugang hat seine volle Berechtigung. Alternativen sind natürlich möglich, etwa eine Untersuchung des höfischen Milieus, des Zentrums des Staats, oder der Sicht lokaler Gemeinschaften auf den Staat. Für letztere wäre eine stärkere Berücksichtigung archäologischer Befunde notwendig, etwa um die Frage zu beantworten, wie staatliches Handeln in lokalen Kontexten umgesetzt wurde und sich auf die Organisation städtisch-dörflich geprägter Gemeinschaften, jenseits lokaler Eliten, im provinziellen Hinterland ausgewirkt hat. Der Autor hat sich, vermutlich im Sinne des vorgegebenen Formats, auf ausgewählte Angaben in der Bibliographie beschränkt. Ab und an wäre eine deutlichere Verschränkung von Text und Bibliographie wünschenswert gewesen. In einigen Fällen liest der Rezensent die zitierte Forschungsliteratur anders als die Referenz des Autors es nahelegt. Die Buchkapitel lassen sich getrennt voneinander lesen, was zu gelegentlichen Wiederholungen führt. Dennoch ist das Buch ein lesenswerter, quellenkritischer und ausgesprochen kompetenter Beitrag zur Diskussion eines der frühesten Zentralstaaten der Menschheitsgeschichte. Es öffnet ägyptologische Diskussionen einer fachübergreifenden Leserschaft und ist im Vergleich mit deskriptiven Büchern ähnlichen Formats ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung einer theoretischen Grundlegung der Diskussion.

| von Prof. Dr. Richard Bußmann, Universität zu Köln

Produktdetails

The State in Ancient Egypt: Power, Challenges and Dynamics
Juan Carlos Moreno García
London: Bloomsbury 2019, S. 248, 12 s/w Abb., £ 19.99/£ 58.50 (GB)


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